Glossar Digitale Souveränität
Ubiquität (Medienwissenschaft)
Ubiquität bezeichnet in der Forschung zu Diskursen medialer Kontrolle die Vorstellung, dass man Kontrollhandlungen nach den sie bestimmenden Normen unterscheiden könne. Der Begriff drückt die Kritik an dieser Vorstellung aus. |
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge: Exteriorität (Medienwissenschaft), Informationszugang (Rechtswissenschaft), Mediale Kontrolle (Medienwissenschaft), Öffentlichkeit (Medienwissenschaft), Populismus (Medienwissenschaft), Privatheit (Rechtswissenschaft), Zensur (Medienwissenschaft) |
Inhaltsverzeichnis
Was bezeichnet dieser Begriff?
Ubiquität bezeichnet in der Forschung zu Diskursen medialer Kontrolle die Vorstellung, dass man Kontrollhandlungen nach den sie bestimmenden Normen unterscheiden könne. Der Begriff drückt die Kritik an dieser Vorstellung aus, insbesondere insofern damit die Frage, wer diese Normen implementieren darf oder soll, ausgeblendet wird. Sie wird im komplementären Begriff der Exteriorität diskutiert, der eine andere Perspektive auf dieselben Fälle beschreibt.
Im Konzept der Ubiquität werden also Fragen danach verhandelt, welche Regeln durch eine bestimmte mediale Kontrollpraxis umgesetzt werden. Welches Konzept von Obszönität verfolgt eine bestimmte Zensur? Nach welchen Inhalten wird in einer bestimmten Überwachungsinfrastruktur gefahndet? Welche propagandistischen Inhalte werden von einer bestimmten Förderung privilegiert? Woran erkennt die Kritik eine politische Äußerungsform als populistisch? Definiert wird das Konzept durch die Vorstellung, dass man Kontrollhandlungen nach den sie bestimmenden Normen unterscheiden könne.
Woher kommt der Begriff?
Der Begriff schließt an Überlegungen der US-amerikanischen kritischen Philosophin Judith Butler an, die in ihren Beiträgen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zum Ende des vorigen Jahrhunderts betont hat, dass die in der französischen postmodernen Philosophie und insbesondere in der Diskursanalyse immer wieder betonte Allgegenwart von Machtverhältnissen, die Kommunikationen formen und begrenzen, zu selbstwidersprüchlichen Anweisungen führen kann. So sei etwa die im US-amerikanischen Militär jener Zeit geltende Regel Don't ask, don't tell zum Umgang mit Homosexualität dazu gedacht, den Alltag im Militär unbeeinflusst von der Frage nach der sexuellen Orientierung der handelnden Personen organisierbar zu machen. Tatsächlich aber führe er dazu, dass immer mehr Themen und Gespräche verdächtig würden, von der Frage nach der Familie über die Frage nach dem Urlaub bis zu einfachen Fragen nach der Biographie von Soldat_innen untereinander.[1]
Anschlussfähig ist der Begriff damit an alle Überlegungen, die Zensur in einem sehr weiten Sinne als alle Regeln verstehen, die Kommunikation gestalten, und die betonen, dass Kommunikation Regeln braucht, um überhaupt zu funktionieren, wie es etwa beim französischen Soziologen Pierre Bourdieu geschieht[2]. In ähnlicher Weise weiten die klassischen Beschreibungen der Diskursanalyse nach Michel Foucault Konzepte der Regulierung von Diskursen aus. Sie unterscheiden etwa verschiedene Epistemen als Formationen von Wissensordnungen aus verschiedenen historischen Zeiträumen, so dass in verschiedenen historischen Kontexten unterschiedliche Arten von Wissen formuliert oder eben nicht formuliert werden konnten. Diese Analysen fragen zwar häufig, wer in einer bestimmten Formation sprechen könne, aber kaum danach, wer diese Regel durchsetze: Auch sie blenden damit zugunsten der implementierten Normen die Frage nach den implementierenden Instanzen aus.[3] Entscheidende Kritiken über den Einfluss von Zensur und anderen Interventionen in die Kommunikation, die chilling effects, silencing oder sogenannte Schweigespiralen beschreiben, bei denen die Angst vor einer negativen Reaktion bestimmte Meinungen und Sprechweisen bereits vor der expliziten Implementation von Zensur unterdrücken können, gehen häufig von einer allgemeinen, kontextunsensiblen Ausweitung von entsprechenden kontrollierenden Normen aus.
Der Begriff sollte daher nicht mit Ubiquitous Computing verwechselt werden. Die damit verbundene Beschreibung allgegenwärtiger computergestützter Datenverarbeitung kann aber als Form medialer Kontrolle wiederum mit einer Schlagseite im Bereich der Ubiquität diskutiert werden, wenn ihre Allgegenwart etwa als Facette einer allgemeinen Digitalisierung wahrgenommen wird, statt nach den Unternehmen und Institutionen zu fragen, die im Einzelfall Infrastrukturen aufbauen und nutzen.
Wonach muss ich fragen?
- Welche Regeln gelten für die Kommunikation? Warum?
- Welche Konzepte und Kriterien müssen vorausgesetzt werden, um die Regeln zu verstehen?
- Aus welchen historischen und politischen Kontexten stammen diese Konzepte?
- Welche Widersprüche ergeben sich aus ihrer Anwendung?
- Welche Exteriorität wird von einem Fokus auf Ubiquität verdeckt -- von welchen konkreten Handlungskontexten und handelnden Akteuren lenkt die Rede von der vermeintlich allgemeinen Regel ab?
Wann ist das wichtig?
Für die Erforschung medialer Kontrolle ist unter anderem die Beschreibung von Kontrolldiskursen entscheidend, also die Frage danach, wie über Kontrolle gesprochen, wie sie konzipiert, verstanden und deshalb umgesetzt wird. In Diskursanalysen[4] erweist sich für moderne und postmoderne Situationen, in denen Kontrolle über Medien in der Regel legitimationsbedürftig ist, eine Spannung zwischen Auffassungen von bestimmten Kontrollmechanismen, die ihre Exteriorität in den Vordergrund stellen, und solchen, die ihre Ubiquität betonen.
Ubiquität trägt in zwei Weisen zu Legitimierungsargumenten für mediale Kontrolle bei. Zum einen werden bestimmte Regeln damit verteidigt, dass sie so allgemein und grundsätzlich gelten würden, dass man über ihre Gültigkeit gar nicht mehr streiten müssen: sie verstehe sich von selbst. Zum anderen gilt jede Intervention als gerechtfertigt, die eine akzeptierte Regel umsetzt, was zur Verdeckung der Frage führen kann, wer als Instanz ermächtigt wird, ihre Umsetzung zu prüfen, abzuwägen und durchzusetzen.
Darüber hinaus begründet das mediale Wechselverhältnis zwischen Exteriorität und Ubiquität häufig Machtverhältnisse, in denen die ausschließliche Aufmerksamkeit für einen dieser beiden Pole den anderen verdeckt oder auch je nach politischer Absicht verdecken soll. So könnte etwa der Streit um den Umgang mit Homosexualität im Militär die Frage verdecken, welche Offiziere die Aufgabe und das Recht erhalten, die Kommunikation anderer Soldat_innen zu überprüfen; welche Politiker_innen ein Interesse an der Durchsetzung oder der öffentlichen Diskussion um die Regel haben; oder welche Klassen, Einkommensschichten oder anderweitig definierten Gruppen von dieser Kontrolle der Kommunikation von Menschen bestimmter sexueller Orientierung in verschiedener Weise betroffen sind.
Wie wird der Begriff erfasst/festgelegt?
In der kritischen Diskursanalyse zumal in deutscher Sprache ist die Aufmerksamkeit für die Ubiquität der Regeln, die kommunikative Machtverhältnisse bestimmen, besonders stark ausgeprägt. So wird unter dem Begriff des Normalismus[5] die Einführung, Reproduktion und historische Dynamik von gesellschaftlich weitreichenden Annahmen über Normalität, Alltäglichkeit und damit auch über die Ausnahmen von diesen Normen besprochen. Eine besondere Rolle spielt dabei, wie Normalismen kommunikative Situationen weniger komplex darstellen, als sie sind: Wenn etwa eine Norm, die nur für ein bestimmtes Publikum gilt, verallgemeinert wird, kann ein Modell öffentlicher Kommunikation ohne die Frage formuliert werden, welches Publikum oder welche Teilöffentlichkeit daran beteiligt ist.
Allgemeiner thematisiert das Konzept von Ubiquität, welche Normen für einen bestimmtes kontrolliertes Kommunikationsformat gelten sollen. Genre- und Gattungsunterscheidungen werden hier häufig wichtig. Gerichte etwa agieren häufig als Kontrollinstanzen; ob sie Normen der sexuellen Moral, des geistigen Eigentumsrechts, der Privatheit durchsetzen, ob sie den Informationszugang von Bürger_innen gegenüber Behörden oder im Interesse einer umfassenden Sicherheitserwartung Staatsgeheimnisse schützen, kann ihr Handeln im Einzelfall wesentlich verschieden bestimmen. In der kritischen Verwendung erinnert Ubiquität aber umgekehrt gerade daran, dass nicht jede Implementation einer bestimmten Norm gleichartig ist: ob etwa sexuelle Moral, geistiges Eigentum, Privatheit, Informationsfreiheit oder Staatsgeheimnisse von Gerichten oder von Feuilletonist_innen, Politikerinnen, Philosoph_innen, digitalen Plattformbetreibenden oder privaten User_innen beschworen wird, darf von der Frage, worüber diskutiert wird, nicht völlig verdeckt werden.
Welche Bildungsprojekte gibt es dazu?
- Im NDR-Kultur-Podcast "Tee mit Warum - Die Philosophie und wir" wird auf das Thema Ubiquität in der Folge "Was ist normal? Mit Jürgen Link und Michel Foucault" eingegangen: https://www.ardaudiothek.de/episode/tee-mit-warum-die-philosophie-und-wir/was-ist-normal-mit-juergen-link-und-michel-foucault/ndr-kultur/13340115/
- Das Problem der Ubiquität zeigt sich auch daran, dass Bildungsprojekte zur Zensur (siehe Zensur (Medienwissenschaft) und Zensur (Rechtswissenschaft)) meistens Normen und Regeln, nicht aber die Institutionen und Personen diskutieren, die sie umsetzen sollen. Im Sinne der Ubiquität sollte bei der (Weiter-)Bildung zu Zensur mitgedacht werden, wer hinter dem Eingreifen ins Internet steht, und nicht nur, nach welchen Normen dies geschieht.
- Ein Beispiel für eine spekulative Imagination über die Person hinter der Zensur findet sich beispielsweise in John M. Coetzees "Emerging from Censorship" (1993), in dem er auf die psychologische Dimension von Zensur und deren Folgen für die Kultur und Gesellschaft eingeht.[6]
Weiterführende Literatur
- Butler, Judith. 1998. "Ruled Out. Vocabularies of the Censor." In Censorship and Silencing Practices of Cultural Regulation, herausgegeben von Robert C. Post. Los Angeles, CA: The Getty Research Institute for History of Art and the Humanities, 247–260.
- Link, Jürgen. 1996. Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen: Westdeutscher Verlag.
- Packard, Stephan. 12.01.2023. "Mediale Kontrolle." In Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen, herausgegeben von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. URL: https://diskursmonitor.de/glossar/mediale-kontrolle. Zugriff am 07.10.2024.
Quellenverzeichnis
- ↑ Vgl. Butler, Judith. 1998. "Ruled Out. Vocabularies of the Censor." In Censorship and Silencing Practices of Cultural Regulation, herausgegeben von Robert C. Post. Los Angeles, CA: The Getty Research Institute for History of Art and the Humanities, 247–260.
- ↑ Vgl. Bourdieu, Pierre. 1977. "La censure." Social Science Information 16(3-4), 385-388. DOI: 10.1177/053901847701600307. Zugriff am 07.10.2024.
- ↑ Vgl. Foucault, Michel. 1971. L'ordre du discours. Paris: Gallimard.
- ↑ Vgl. Packard, Stephan. 2012. "Draußen und Überall. Zwei heuristische Begriffe zur Diskursanalyse medialer Kontrolle." Mediale Kontrolle unter Beobachtung 1(2), 1-29. DOI: 10.25969/mediarep/13775. Zugriff am 07.10.2024.
- ↑ Vgl. Link, Jürgen. 1996. Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen: Westdeutscher Verlag.
- ↑ Vgl. Coetzee, John M. 1993. "Emerging from Censorship." Salmagundi (Saratoga Springs) 100, 36–50.
Die erste Version dieses Beitrags wurde von Stephan Packard erstellt.
Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2024. „Ubiquität (Medienwissenschaft).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.