Risk Literacy (Medienbildung)

Was bezeichnet dieser Begriff?

Der Begriff Risk Literacy (in der deutschsprachigen Literatur oft auch Risikokompetenz oder Risikointelligenz) ist ein wesentlicher Teil der 21. Jahrhundert. (Gigerenzer 2014,13) [1] und der Medienkompetenz (edu) (Festag, Barth,175)[2]. Er hat seinen Ursprung in der Pädagogik und Psychologie. Er kann auch auf Bereiche der Betriebswissenschaft, Rechtswissenschaft und insbesondere auf den wirtschaftswissenschaftlichen Kontext übertragen werden.(Festag, Barth) [2] Dr. Edward T. Cokely definiert Risk Literacy als "one’s practical ability to evaluate and understand risk in the service of skilled and informed decision making" (Cokely 2018, 476-505).[3]

Laut Deborah Lupton leben wir in einer "digital risk society", in der Personen, die als "risks" oder "risky" identifiziert werden, zunehmend über digitale Medien, Geräte und Software konfiguriert und reproduziert werden. Diese Technologien fungieren nicht nur als Risikovermittler, sondern sind häufig selbst neue Risikoquellen.(Lupton 2016,2) [4]. Die Fähigkeit, sicher und autonom mit dieser technologisch fortgeschritten digitalen Gesellschaft zu interagieren und mit den Unsicherheiten auf informierte Weise umzugehen, ist einige der Aufgaben des Risk Literacy.

Technologische Entwicklung, Digitale Souveränität und Risk Literacy sind eng miteinander verbunden, erklärt Gerd Gigerenzer und definiert den Begriff wie folgt: "In general, risk literacy concerns informed ways of dealing with risk-related areas such as health, money, and modern technologies. Digital risk literacy means being able to take advantage of digital technologies without becoming dependent on or manipulated by them." (Gigerenzer 2017) [5]

Die psychologische Erklärung des Begriffes stellen Giuseppe Craparo, Paola Magnano, Anna Paolillo und Valentina Costantino zur Verfügung. Risikointelligenz präsentieren sie als eine psychologische Ressource mit kognitive und emotionale Eigenschaften. Es kann als eine der individuellen Ressourcen funktionieren, die dem Einzelnen helfen, Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Lebens- und Karriereübergängen zu begegnen, weil es die Fähigkeit ist, effektiv Vor- und Nachteile einer Entscheidung zu bestimmen. Risikointelligente Personen sind in der Lage, Risikosituationen effektiv zu bewerten und als Möglichkeit statt als Bedrohung zu erkennen. (Craparo, Magnano, Paolillo, Costantino 2017, 976) [6]

Laut David Apgar ist Risikokompetenz jede Erfahrung, die einem irgendwie hilft, Probleme zu lösen. Es ist die Fähigkeit eines Einzelnen oder einer Organisation, Risiken effektiv abzuwägen. Dies schließt die Kategorisierung, Charakterisierung und Einschätzung von Gefahren, die Wahrnehmung von Beziehungen und das Handeln nach entsprechenden Informationen mit ein. (Apgar 2006, 13-23) [7]

Dylan Evans kritisiert Apgars Begriffserklärung. Er findet sie ziemlich vage und denkt, dass sie so viele Fähigkeiten umfasst, dass sie für die Praxis nutzlos und wissenschaftlich nicht messbar ist. Er bevorzugt eine viel beschränktere Definition, nämlich dass Risk Literacy die Fähigkeit ist, Wahrscheinlichkeiten genau abzuschätzen. (Evans 2012, 604) [8]

Woher kommt der Begriff?

"Der Begriff Risiko (griechisch für Klippe, Gefahr) wird in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich definiert. Die verbreitete Definition lautet: Das Risiko wird als Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses und dessen Konsequenz, bezogen auf die Abweichung von gesteckten Zielen, angesehen und ist in der Einheit der Zielgröße zu bewerten. Das Risikokonzept des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung, 1999, XXIV) sieht ein gesellschaftliches Risiko. Zusammenfassend unterscheidet der Beirat in seinem Risikokonzept fünf Elemente: 1. Ein ideales Verständnis von Risiko, das den objektiven Grad der Gefährdung widerspiegelt. 2. Eine naturwissenschaftlich-technische Risikoabschätzung, die auf der Basis von Beobachtung und Modellbildung eine möglichst genaue Kenntnis der relativen Häufigkeiten von Schadensereignissen, gemittelt über Zeit und Region, anstrebt. 3. Eine allgemeine Risikowahrnehmung, die auf einer intuitiven Risikoerfassung und deren individueller oder gesellschaftlicher Bewertung beruht. 4. Eine intersubjektive Risikobewertung, die auf einem oder mehreren Verfahren der rationalen Urteilsfindung über ein Risiko in Bezug auf dessen Akzeptabilität bzw. Zumutbarkeit für die Gesellschaft als Ganzes oder bestimmter Gruppen und Individuen beruht. 5. Ein ausgewogenes Risikomanagement, das die geeigneten und angemessenen Maßnahmen und Instrumente zur Reduzierung, Steuerung und Regulierung von Risiken je nach Risikotyp zusammenfasst." (Festag/Barth,32)[2]

Der Begriff Literacy bedeutet Alphabetisierung, also die Fähigkeit des Lesens und Schreibens. Die UNESCO definiert Literacy in erweiterter Form: "Beyond its conventional concept as a set of reading, writing and counting skills, literacy is now understood as a means of identification, understanding, interpretation, creation, and communication in an increasingly digital, text-mediated, information-rich and fast-changing world" [9]

Die digitale Revolution bietet eine beeindruckende Reihe von Möglichkeiten: Tausende von Apps, das Internet und "almost permanent connectivity to the world". In der Aufregung wird eines jedoch leicht vergessen: Innovative Technologie braucht kompetente Benutzer, die sie steuern können, anstatt von ihr gesteuert zu werden. "What can we do? There are three competing visions. One is techno-paternalism, which replaces (flawed) human judgment with algorithms...The second vision is known as "nudging". Rather than letting the algorithm do all the work, people are steered into a particular direction, often without being aware of it...But there is a third possibility. My vision is risk literacy, where people are equipped with the competencies to control media rather than be controlled by it." (Gigerenzer 2017) [5]

Im Bereich der Medienpädagogig spielt Risk Literacy eine wesentliche Rolle. Gemäß Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer finden die Risiken und Nebenwirkungen von digitaler Informationstechnik auf Kinder gesellschaftlich und politisch kaum Beachtung. "Zugleich ist aus der Bildungsforschung bekannt: Wer schon als Kleinkind viel Zeit vor Bildschirmmedien verbringt, zeigt in der Grundschule vermehrt Störungen bei der Sprachentwicklung sowie Aufmerksamkeitsstörungen (Spitzer 2012). Eine Playstation im Grundschulalter verursacht nachweislich schlechte Noten im Lesen und Schreiben (Weis & Cerankosky 2010) und ein Computer im Jugendzimmer wirkt sich negativ auf die Schulleistungen aus (Fuchs & Woesmann 2004). Hinzu kommt die Suchtgefahr, denn Computerspiele sind programmiert, um Sucht zu erzeugen. Weitere Folgen digitaler Medien, zu denen mittlerweile auch das Smartphone gehört, sind Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht und Gewaltbereitschaft (Spitzer 2014)." (Festag, Barth 2015, 175) [2]

Wonach muss ich fragen?

  • Wie kann man seine Risikointelligenz verbessern?
  • Was ist absolutes/ relatives Risiko?
  • Wie misst man das Risiko?
  • Wie wird man "risk literate"?
  • Percent of what? (Gigerenzer 2014,14) [1]
  • What is the absolute risk increase? (Gigerenzer 2014,20) [1]
  • Wie wird Risiko im Bereich der "Digital Information" menagiert?
  • Warum brauchen Unternehmen Risk Literacy?
  • Wie wird Risk Literacy im Bereich der persönlichen Finanzen eingesetzt?
  • Kann die Entwicklung von Risk Literacy die Gesundheitsversorgung verbessern?

Wann ist das wichtig?

Gerd Gigerenzer ist Direktor des Harding Center for Risk Literacy. Für den Begriff schreibt er: "Risk literacy is the basic knowledge required to deal with a modern technological society. The breakneck speed of technological innovation will make risk literacy as indispensable in the twenty-first century as reading and writing were in previous centuries. Without it, you jeopardize your health and money, or may be manipulated into unrealistic fears and hopes." (Gigerenzer 2014, 13) [1]

Zu den zahlreichen potenziellen Schäden und Risiken, die im Zusammenhang mit der Nutzung digitaler Technologien festgestellt wurden, gehören laut Deborah Lupton die Möglichkeit der Internetabhängigkeit, räuberisches Verhalten von Online-Pädophilen, Cyberbullying von Kindern, illegale Aktivitäten im „dark web“ sowie weniger entwickelte soziale und körperliche Fähigkeiten und eine größere Tendenz zur Gewichtszunahme bei Personen, die zu viel Zeit online verbringen (insbesondere bei Kindern und Jugendlichen). Auf nationaler und globaler Risikoebene sind Sicherheitssysteme, Regierung, Weltwirtschaft und die meisten Arbeitsplätze für den Betrieb auf digitale Technologien angewiesen. Wenn ihre Systeme beschädigt sind, kann dies zu einer weit verbreiteten Katastrophe führen. In Kreisen der Informatik und des Risikomanagements wird seit mehreren Jahrzehnten die Sicherheit und Zuverlässigkeit kommerzieller oder staatlicher digitaler Systeme untersucht, um diese Systeme vor Ausfällen oder Betriebsstörungen zu schützen (‘cyber risk’). (Lupton 2016,6)[4]

Gemäß Gerd Gigerenzer können oft Fachleute nicht richtig Risiko abwägen. “Weil die bittere Erfahrung lehrt, dass Expertenrat gefährlich sein kann. Viele Ärzte, Finanzberater und andere Risikoexperten sind selbst nicht in der Lage, Risiken richtig einzuschätzen oder sie anderen verständlich zu machen. Schlimmer noch, nicht wenige befinden sich in Interessenkonflikten oder haben solche Angst vor rechtlichen Konsequenzen, dass sie ihren Patienten oder Klienten Ratschläge erteilen, die sie ihren eigenen Angehörigen nie geben würden.” [10]

In der Geschäftswelt ist Risiko oft mit dem Verständnis verbunden, dass es um jeden Preis vermieden werden muss. Das klassische Risikomanagement bestätigt dies. Was Unternehmen jedoch oft nicht verstehen und nicht beachten, ist die Tatsache, dass Risiken absolut notwendig für die Gewährleistung von langfristigen Wohlstand, Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit sind. (Drewniok 2014, 32) [11]

In der heutigen technologischen Gesellschaft ist das mangelnde Vertrauen der meisten Menschen in den Umgang mit Risiken zu einem Problem geworden, und das Ausmaß dieses Problems bleibt weitgehend ungeprüft. Dies zeigt das folgende Beispiel aus Großbritannien: Als britische Zeitungen berichteten, dass die Einnahme der Antibabypille das Risiko einer Thromboembolie (Blockierung eines Blutgefäßes durch ein Blutgerinnsel) um 100% erhöhte, gerieten viele Frauen in Panik und hörte auf, es zu nehmen. Diese emotionale Reaktion führte zu ungewollten Schwangerschaften und einer geschätzten Zunahme der Abtreibungen um mehr als 10.000. Die Studie hatte bestätigt, dass von 7.000 Frauen, die die Pille nicht einnahmen, eine an einer Thromboembolie litt und von 7.000 Frauen, die sie einnahmen, die Zahl der betroffenen Frauen auf zwei anstieg. Die Fähigkeit, zwischen einem relativen Risiko („100%“) und einem absoluten Risiko („1 zu 7000“) zu unterscheiden, gehört heute nicht mehr zur allgemeinen öffentlichen Bildung. (Gigerenzer 2014,19) [1]

Wie wird der Begriff erfasst/festgestellt?

Forscher des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin und der Michigan Technological University haben zwischen 2007 und 2012 einen psychologischen Test für Risk Literacy entwickelt. Durch nur wenige Testaufgaben aus dem Bereich der Prozentrechnung soll „The Berlin Numeracy Test“ die Fähigkeit feststellen, Informationen zu Risikowahrscheinlichkeiten zu interpretieren. Die Ergebnisse der Forschungen zeigten, dass das Risk Literacy eng mit dem mathematischen Verständnis bzw. der statistischen Kompetenz bezüglich der Interpretation von Daten verknüpft ist. [12]

David Apgar schuf indes mit dem Risk Intelligence Quotient (Risk IQ) ein Verfahren, das die Fähigkeit der Testpersonen zur Bewertung erlernbarer Risiken messen soll. Das Scoring-Verfahren zur Ermittlung des Risk IQ basiert auf fünf Elementen, die sich auf unterschiedliche Arten von Risiken beziehen. In Relation zu Personen, die im Beruf oder Alltag mit ähnlichen Risiken konfrontiert sind, soll per Selbsteinschätzung ein Wert von 0-2 zu jedem der Elemente angegeben werden. Während 0 bedeutet, dass andere Personen der gleichen Berufsgruppe die Risiken besser beurteilen können, steht ein Wert von 2 für eine überdurchschnittliche hohe Urteilungsgabe erlernbarer Risiken. Neben der Messung von Risikointelligenz soll der Test zusätzlich die Grundlage zur Verbesserung unterdurchschnittlich ausgeprägter Elemente bieten. [7]

Craparo et al. haben in einer psychologischen Studie eine Skala zur Messung der „Subjective Risk Intelligence“ anhand der vier Faktoren Vorstellungskraft, Problemlösungsfähigkeit, Einstellung gegenüber Unsicherheiten und die emotionale Stressempfindlichkeit entwickelt. Dabei sollen 21 Aussagen über einige Verhaltensweisen und psychische Zustände hinsichtlich der eigenen Lebenserfahrung bewertet werden. Anhand der Ausprägungen der gegebenen Antworten wird die individuelle Risikointelligenz bestimmt.[6]

"The Risk-Literacy-Model (RLM) allows the assessment of pupils´ risk-judgments and therefore their degree of risk-literacy. The RLM describes two ways of cognitive risk-related information processing: the Central Route shows a high level of information processing, which leads to a well-weighed and well-founded high quality risk-judgement (Figure 1).

RLM; Risk Literacy Model

Within the Peripheral Route, the degree of cognitive information processing is low and leads to a temporary and peripheral risk-judgment, which cannot be well-weighed and well-founded." (Sozio/Elster, 1) [13]

Welche Bildungsprojekte gibt es dazu?

Weiterführende Literatur

  • Gerd Gigerenzer (2007) Gut Feelings: The Intelligence of the Unconscious
  • Gerd Gigerenzer (2003) Calculated Risks: How to Know When Numbers Deceive You
  • Thomas Bauer, Gerd Gigerenzer, Walter Krämer (2016) Warum dick nicht doof macht und Gen-Mais nicht tötet - Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik

Quellenverzeichnis

  1. 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 Gigerenzer, Gerd.2014."Risk Savvy: How to Make Good Decisions"/
  2. 2,0 2,1 2,2 2,3 Festag, Sebastian. Barth, Uli. 2015. "Risikokompetenz, Beurteilung von Risiken. Beurteilung von Risiken". In: Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (Hrsg.): Schriften der Schutzkommission. Nr. 7. Bonn./
  3. Cokely, E. T., Feltz, A., Ghazal, S., Allan, J. N., Petrova, D., & García-Retamero, R. (2018). Decision making skill: From intelligence to numeracy and expertise. In Ericsson, K. A., Hoffman, R. R., Kozbelt, A., & Williams, A. M. (Eds.), Cambridge handbook of expertise and expert performance/
  4. 4,0 4,1 Lupton, Deborah.2016. "Digital Risk Society", Chapter for The Routledge Handbook of Risk Studies
  5. 5,0 5,1 Gigerenzer, Gerd. 2017. "Digital risk literacy: Technology needs users who can control it". Scientific American, February 25, 2017/
  6. 6,0 6,1 Craparo, Giuseppe, Paola Magnano, Anna Paolillo und Valentina Costantino. 2017. “The Subjective Risk Intelligence Scale. The Development of a New Scale to Measure a New Construct”. In: Current Psychology./
  7. 7,0 7,1 Apgar, David. 2006. "Risk intelligence. Learning to manage what we don't know". Hrsg.: Harvard Business School Press. Boston./
  8. Evans, Dylan.2012. "Risk Intelligence". In: Sabine Roeser, Rafaela Hillerbrand, Per Sandin und Martin Peterson (Hrsg.): Handbook of Risk Theory. Epistemology, Decision Theory, Ethics, and Social Implications of Risk. Springer Netherlands, Dordrecht 2012, S. 603–620./
  9. https://en.unesco.org/themes/literacy/
  10. Gigerenzer, Gerd. 2013. "Risiko: wie man die richtigen Entscheidungen trifft". 5. Auflage. Bertelsmann, München./
  11. Drewniok, Babette. 2014. "Risikokompetenz ist eine Kernfähigkeit im unsicheren Umfeld. Wie kann man sie verbessern?" In: CONTROLLER Magazin. Nr. 5, 2014, S. 32–38./
  12. 12,0 12,1 Cokely, Edward T., Mirta Galesic, Eric Schulz, Saima Ghazal und Rocio Garcia-Retamero. 2012. “The Berlin Numeracy Test”/
  13. Sozio, Doris Elster. 2016 . “On the Risk Literacy of Young People in the Context of Nanotechnology”./

Die erste Version dieses Beitrags beruht auf der studentischen Arbeiten von Aleksandar Dragomirov im Rahmen des Projekts "Digitale Souveränität" am Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht und am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln.