Postdigitalität (Medienwissenschaft)

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Postdigitalität beschreibt einen Zustand von Handlungskontexten, Technologien oder ganzen Gesellschaften, in denen die Digitalisierung so weit fortgeschritten ist, dass zwischen digitalen und nicht-digitalen bzw. analogen Teilen nicht mehr klar unterschieden werden kann.
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge:
Digitalisierung (Medienwissenschaft), Netzwerk (Medienwissenschaft), Öffentlichkeit (Medienwissenschaft)

Was bezeichnet dieser Begriff?

Postdigitalität beschreibt einen Zustand von Handlungskontexten, Technologien oder ganzen Gesellschaften, in denen die Digitalisierung so weit fortgeschritten ist, dass zwischen digitalen und nicht-digitalen bzw. analogen Teilen nicht mehr klar unterschieden werden kann. Das heißt, dass die Digitalisierung verschiedener Handlungskontexte eine gewisse Schwelle überschritten habe, nach der kein solcher Kontext mehr ohne Bezug auf Digitalisierung zu denken sei. Jede menschliche Handlung bezieht entweder digitale Komponenten mit ein, wird von ihnen beeinflusst, oder könnte das zumindest tun.

So spricht etwa David Berry von einem Leben „in computational abundance whereby our everyday lives and the environment that surrounds us are suffused with digital technologies“.[1] Mit Postdigitalität ist also weder gemeint, dass Digitalität nichts mehr bedeute, noch dass die Digitalisierung nicht mehr weitergehe. Gemeint ist vielmehr, dass der Begriff digital als Differenzbegriff, also als Abgrenzung zum Nichtdigitalen oder Analogen, keine sinnvolle Bedeutung mehr habe, weil diese Abgrenzung zu schwer geworden sei und das Analoge in reiner Form nicht mehr existiere.

In vielen Darstellungen wird Postdigitalität mit weiteren gesellschaftlichen und konzeptionellen Transformationen verbunden: mit der steigenden Bedeutung von Netzwerken, deren vielfache Verbindungen zwischen sehr vielen verschiedenen Akteuren Trennungen von Handlungskontexten generell erschwere; mit posthumanen oder posthumanistischen Erfahrungen, bei denen die Unterscheidung zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Kommunikationspartnern entweder schwieriger oder weniger bedeutend wird, als sie früher vielleicht gewesen ist; und mit emanzipatorischen Effekten sowie mit neuen Machtverhältnissen, die durch die Digitalisierung geformt werden.

Woher kommt der Begriff?

Der Begriff des Postdigitalen kommt im Jahr 2000 in zwei verschiedenen Kontexten gleichzeitig auf. Besonders einflussreich ist die Monographie The Postdigital Membrane von Pepperell und Punt aus diesem Jahr.[2] In Fortsetzung von Robert Pepperells fünf Jahre zuvor erschienener Monographie über The Post-Human Condition[3] fokussiert sich die gemeinsame Arbeit der beiden Literaturwissenschaftler auf die mit Konzepten des Digitalen verbundenen Erfahrungen von Veränderungen im Arbeitsalltag, in der öffentlichen Kommunikation, der technischen Umgebung des alltäglichen Lebens, aber auch auf Kunstwerke und futurologische Phantasien. Die titelgebende Membran ist nicht etwa zwischen dem Analogen und dem Digitalen aufgespannt, sondern verweist als Metapher auf die feuchte Beschaffenheit von organischen Membranen, die ebensowenig eindeutig trocken oder nass sind wie die Bedingung des menschlichen Lebens um 2000 noch eindeutig digital oder analog sei. Die Autoren gehen dabei davon aus, dass keineswegs alles, was mit dieser Erfahrung verbunden werde, von neuen Technologien bestimmt sei, von Technologie determiniert werde oder als Technologie überhaupt existiere. Stattdessen beschrieben sie ein Dreieck aus Technologien, Vorstellungen und Begehren, durch die sich bestimmte Diskurse verstehen lassen. Die Vorstellung von einem perfekt menschenähnlichen Roboter etwa wird für das Handeln der Menschen nach dieser Darstellung bereits 2000 handlungsleitend, obwohl ein solcher Roboter nie gebaut wurde.

Der zweite Kontext, in dem 2000 von Postdigitalität gesprochen wird, betrifft Transformationen in verschiedenen Kunstformen, zunächst der Musik[4] und bald auch der Photographie und weiterer Teile der bildenden Kunst[5]. Für den Musikwissenschaftler Kim Cascone zeichnen sich neue experimentelle Musikstücke dieser Zeit dadurch aus, dass sie sich digitaler Werkzeuge bedienen, die jedoch nicht mehr wie kurz zuvor besonders aufwändig ausgestatteten Laboratorien oder kapitalstarken Studios vorbehalten werden, sondern als frei verfügbare Software unter Musiker_innen global zirkulieren. In dieser Hinsicht ist die neue Kunst postdigital, weil der Zugang zu digitalen Technologien kein wesentliches Differenzkriterium mehr ausmacht. Postdigitalität beschreibt also zugleich eine ästhetische Entgrenzung wie eine soziale Entdifferenzierung und Emanzipation.

Vor allem für die bildende Kunst und später auch für Computerspiele[6] ist im Anschluss beschrieben worden, wie digitale Technologien insofern postdigital werden, als etwa Photographien nicht mehr an bestimmten Merkmalen als digitale Photographien erkennbar sind, wenn sie von Digitalkameras aufgenommen werden, sondern stattdessen zur Bearbeitung beliebiger Bilder eine digitale Ästhetik ebenso als Filter einstellbar wird wie die Ästhetik eines barocken Ölgemäldes, einer Zelluloidphotographie oder eines photorealistischen Gemäldes. In diesen Kontexten wird Postdigitalität auch mit einer Aufhebung von vorausgehenden Begriffen von Geschichtlichkeit verbunden: Postdigital ist ein Medium dann, wenn das Aussehen eines Medienartefakts keine sicheren Rückschlüsse auf seine Entstehungszeit mehr erlaubt und insbesondere auch nicht darauf, ob es vor oder nach dem Siegeszug der Digitalisierung entstanden ist.

In der Mitte des zweiten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert hat ein neuer Schwung an Publikationen[7] diese beiden Argumente zusammengefasst und stärker als zuvor die Verabschiedung des Digitalen als Differenzbegriff auch in alltäglichen Zusammenhängen, vor allem in der Verwendung von sozialen Medien sowie in Bildungskontexten betont. Erst hier wird Postdigitalität von einem ästhetischen oder technikphilosophischen Begriff zu einem Epochenbegriff, der nicht mehr einzelne Phänomene oder Technologien, sondern ein neues Zeitalter beschreiben soll.

Wonach muss ich fragen?

  • Wann unterscheide ich zwischen digitalen und nichtdigitalen Phänomenen?
  • Welche Ziele verfolge ich dabei?
  • Wovon ist diese Unterscheidung abhängig und wo wird sie erschwert oder unmöglich?
  • Wo ist mir der Unterschied zwischen Menschen und nichtmenschlichen Akteuren wichtig?
  • Wo kann ich diesen Unterschied nicht mehr sicher feststellen?
  • Welche Rolle spielt der Zugang zu digitalen Technologien - und wo zirkulieren sie so frei, dass sich daraus keine wesentlich verschiedenen Handlungsoptionen mehr ergeben?
  • Kann ich den Entstehungskontext eines Bilds, Tons oder anderen Dokuments an seiner Ästhetik noch sicher bestimmen?


Wann ist das wichtig?

Postdigitalität drückt zum einen den politischen Anspruch nach einer Entgrenzung digitaler und anderer Handlungskontexte aus, der eine emanzipatorische Wirkung haben soll, insofern der allgemeine Zugang zu und die allgemeine Gewöhnung an digital technische Verfahren und an die von ihnen forcierten Netzwerke Machthierarchien abbauen sollen. Ob diese Erwartung erfüllt wird, ist umstritten; es kann also andererseits vor der vermeintlichen Emanzipation der Postdigitalität als bloßer Illusion gewarnt werden, die totalitäre, koloniale und menschenunwürdige Herrschaftsverhältnisse verdeckt, wie u.a. Evgeny Morozov argumentiert.[8]

Zum anderen verweist Postdigitalität darauf, dass die Effekte der Digitalisierung nicht allein dort zu beobachten sind, wo eine neue digitale Technologie sehr sichtbar Einzug hält. Soziale Medien auf digitalen Plattformen etwa beeinflussen nicht nur die Zeit und das Verhalten, das Menschen in direkter Auseinandersetzung mit ihnen erleben, sondern auch ihre privaten und professionellen Beziehungen, die Art, wie sie Informationen vorrätig halten oder dies nicht mehr nötig finden, die Art, wie sie Bilder betrachten, Kino oder Fernsehen erleben und Tagebücher führen.

Wie wird der Begriff erfasst/festgelegt?

Die Erfassung eines Phänomen als postdigital ist die Ausgangsfrage der Theoriebildung für diesen Begriff und daher in den oben beschriebenen Diskursen allgegenwärtig. Auch wenn keine übergreifende Einigkeit besteht, können folgende Eigenschaften als typisch für postdigitale Erfahrungen gelten:

  • der Verlust von Digitalität als differenzierenden Begriff
  • der gleichzeitige Verlust von rein nondigitalen oder analogen Handlungskontexten
  • die erschwerte Unterscheidung von menschlichen und nichtmenschlichen Akteur_innen
  • die dichte Vernetzung vieler Akteur_innen
  • die Integration von zuvor als digital erkannten Ästhetiken in digital frei wählbare Kataloge unterschiedlicher Ästhetiken
  • die damit einhergehende Verwischung historischer Unterschiede
  • die Emanzipation benachteiligter sozialer Gruppen oder Individuen durch frei zirkulierende digitale Technologien
  • die Verwischung der Unterscheidung zwischen tatsächlich existierenden oder nur vorgestellten oder erwünschten digitalen Technologien

Welche Bildungsprojekte gibt es dazu?


Weiterführende Literatur

  • Pepperell, Robert und Michael Punt. 2000. The Postdigital Membrane. Imagination, Technology and Desire. Bristol: Intellect.


  • Thon

Quellenverzeichnis

  1. Berry, David. 2014. „Post-Digital Humanities.“ Abrufbar unter: https://er.educause.edu/articles/2014/5/postdigital-humanities-computation-and-cultural-critique-in-the-arts-and-humanities. Zugriff am 20.06.2024.
  2. Vgl. Pepperell, Robert und Michael Punt. 2000. The Postdigital Membrane. Imagination, Technology and Desire. Bristol: Intellect.
  3. Vgl. Pepperell, Robert. 1997. The Post-Human Condition. Exeter: Intellect.
  4. Vgl. Cascone, Kim. 2000. „The Aesthetics of Failure. ‚Post-Digital‘ Tendencies in Contemporary Computer Music.“ Computer Music Journal 24 (4), 12-18. URL: https://www.jstor.org/stable/3681551?read-now=1&seq=1. Zugriff am 20.06.2024.
  5. Vgl. Peraica, Ana. 2019. The Age of Total Images: Disappearance of a Subjective Viewpoint in Post-digital Photography. Amsterdam: Institute of Network Cultures.
  6. Vgl. Thon, Jan-Noël Thon: Postdigital computer games
  7. Zusammenfassend vgl. etwa: Berry, David und Michael Deiter (Hg.). 2015. Postdigital Aesthetics. Art, Computation And Design. Hampshire/New York: Palgrave Macmillan.
  8. Vgl. Morozov, Evgeny. 2011. The Net Delusion: the Dark Side of Internet Freedom. New York: PublicAffairs.


Die erste Version dieses Beitrags wurde von Stephan Packard im Rahmen des Projekts „Digitale Souveränität“ am Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht und am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln erstellt.

Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2024. „Postdigitalität (Medienwissenschaft).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.