Glossar Digitale Souveränität
Plattform (Medienwissenschaft)
Eine Plattform ist eine Infrastruktur zur Ermöglichung von Austausch. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird mit „Plattform“ meist eine technische Infrastruktur oder ein Dienst im Internet bezeichnet, den Dritte zum gegenseitigen Austausch nutzen. |
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Inhaltsverzeichnis
Was bezeichnet dieser Begriff?
Die oben ausgeführte Kurzdefinition – „Eine Plattform ist eine Infrastruktur zur Ermöglichung von Austausch.“ - lässt sich auf zweifache Weise lesen. Zum einen sind Plattformen Orte, an denen man sich austauscht: der Ort, wo man in und aus dem Zug steigt (zumindest im Englischen); der Ort, an dem man Geschichten teilt, Handel betreibt, flirtet oder ein Taxi heranruft. Zum anderen sind Plattformen Orte der Austauschbarmachung. Auf Plattformen kann ich nur als austauschbare, in gewisser Weise standardisierte Variante meiner selbst teilnehmen. Dies wird im Anschluss an den französischen Philosophen Gilles Deleuze bisweilen mit der Differenz zwischen dem Handeln als für verschiedene andere verschieden verfügbares Dividuum statt als unteilbar vorgestelltes, persönlich subjektiviertes Individuum beschrieben.[1] Etwa können mich andere als Dividuum durch standardisierte Suchen finden und sich mit mir verbinden, und ich gewinne umgekehrt die gleichen Optionen.
Beides hängt zusammen: Die Austauschbarkeit aller ist das, was den Austausch für alle vereinfacht und die Menge an potenziellen Verbindungen für jeden Einzelnen erweitert. Diese Skalierung geht aber immer auch mit der gestiegenen Austauschbarkeit von einem Selbst einher, denn die nächste Fahrerin, die nächste Unterkunft, das nächste Date ist nur einen Klick oder Rechts-Swipe entfernt.
Technisch kann man drei Arten von Plattformen unterscheiden:
Die Schnittstellenplattform ist eine technische Infrastruktur, die Schnittstellen für externe Akteur_innen bereitstellen, so dass sie austauschbare Elemente für die Plattform herstellen können. Ein Beispiel sind Chiparchitekturen wie Intels x86 oder ARM, Betriebssysteme wie Windows oder Linux, Hardwareschnittstellen wie USB oder Ethernet oder Programmiersprachen wie C++ oder Python.
Die Protokollplattform ist eine technische Infrastruktur, die auf verabredeten Prinzipien basiert. Unterschiedliche Akteure einigen sich darauf, wie ein bestimmter Informationsaustausch vonstatten geht und solange alle sich an diese Einigung halten, funktioniert das System. Beispiele sind Internet (TCP/IP), E-Mail (SMTP) oder das Fediverse (ActivityPub).
Die Diensteplattform bezeichnet eigentlich einen Service im Internet, der aber durch Benutzeroberflächen in Form von Websites oder auf dem Smartphone installierte Apps bedient wird. Hier werden alle Interaktionsmöglichkeiten von einer zentralen Instanz vorgegeben und die eigentliche Interaktion findet in Wirklichkeit innerhalb der Datenbanken eines zentralen Servers oder Rechenzentrums statt. Beispiele für Diensteplattformen sind Instagram, Signal, Uber, TikTok und SHEIN.
Woher kommt der Begriff?
Der Begriff »Plattform« kommt ursprünglich aus dem Französischen und ist eine Zusammensetzung aus altfranzösisch plat (flach) und forme (von lateinisch forma).[2] Er wurde in der frühen Neuzeit vor allem in Bezug auf eine militärische Architektur verwendet, eine etwas erhöhte Fläche, die sich gut eignete, Katapulte und später Kanonen darauf zu positionieren. Kanonen sollten einerseits erhöht stehen, um eine optimale Reichweite zu erzielen, andererseits musste gewährleistet sein, dass sie schnell austauschbar waren. Die Austauschbarkeit ist von Anfang an entscheidend.
Die technische Verwendung des Plattformbegriffs entwickelt sich zunächst in der Computerindustrie. IBM, damals marktbeherrschend, verkaufte oder vermietete seit den frühen 1960ern seine kühlschrankgroßen Mainframe-Computer ausschließlich an große Unternehmen, Universitäten und Behörden. Die erste Computerplattform entwickelte IBM Mitte der 1960er mit dem System/360.[3] Das Unternehmen standardisierte die Schnittstellen des Systems und hielt sie auch in künftigen Weiterentwicklungen rückwärtskompatibel, sodass Software für das eine Modell auch auf anderen, sogar zukünftigen Modellen ähnlicher Bauart funktionierte und sich Software-Entwickler_innen an ihnen orientieren konnten. Vorher vertrieb IBM Software und Hardware als integrierte Gesamtpakete. Mit dem Personal Computer (erst Apple II 1977, dann IBM PC 1980) popularisiert sich die Verwendung des Begriffs Plattform für technische Systeme, für die Drittanbieter Software schreiben können.[4]
Nach dem Zusammenbruch der „New Economy“ in den frühen 2000ern schleicht sich der Begriff zunehmend in die Wirtschaftswissenschaft ein, bei der eine Plattform ein Geschäftsmodell ist, das zwei (oder mehr) unterschiedliche Interessengruppen zusammenbringt - wie auf einem Markt, ein Prinzip, das später auch „zweiseitiger Markt“ genannt wird.[5]
Heute werden als Plattformen meist Diensteplattformen (siehe oben) im Internet bezeichnet, auf denen Menschen miteinander auf die eine oder andere Weise – vom Marktplatz, zum Social Media Dienst, über Taxidienste, die man per App bestellt, bis zur Singlebörse – interagieren.
Es ist wichtig, die anderen Arten der technischen Plattformen (Protokoll- und Schnittstellenplattformen) mit in die Betrachtung einzubeziehen, da sie als alternative Konstruktionsprinzipien immer auch den Imaginationsraum dessen, was Plattformen sind und in Zukunft sein könnten, mitstrukturieren.
Wonach muss ich fragen?
- Vertraue ich der Plattform?
- Wie leicht kann ich die Plattform verlassen?
- Welche Abhängigkeiten entstehen zwischen mir und der Plattform?
- Kann ich auf dieser Plattform alles tun oder sagen, was mir wichtig ist?
- Wer wird durch die Plattform austauschbar und was macht mich austauschbar? Wem nutzt das?
- Welche meiner Verbindungen werden von der Plattform kontrolliert und wie kann mich das treffen?
- Für wen arbeitet der Algorithmus, der meine Interaktionen in die Wege leitet?
- Traue ich den Betreibern der Plattform zu, meine Sicht auf die Welt zu kuratieren?
- Welche politische Ausrichtung haben die Betreiber der Plattform?
- Welchen bewussten und unbewussten Arten der Beeinflussung setze ich mich auf der Plattform aus?
- Tut mir die Plattform gut?
- Welche alternativen Plattformen gibt es für meine Interaktionszwecke und wie leicht ist es, meine Nutzung umzuziehen (Lock-In)?
- Was passiert, wenn mein Nutzerkonto auf einmal gesperrt ist?
- Was tut die Plattform mit meinen Daten?
- Ist die Plattform sicher?
- Hält sich die Plattform an die lokalen Gesetze und kann ich mich auf eine entsprechende Rechtsdurchsetzung verlassen?
- Befindet sich die Plattform bereits auf dem absteigenden Ast und versucht verzweifelt Umsätze aus meinen Interaktionen zu generieren (sog. Enshittification)?
Wann ist das wichtig?
Wir alle nutzen jeden Tag Plattformen: Ebay, Windows, iPhone, Instagram, E-Mail, Uber, Wolt, Android, das Internet. Plattformen sind nützlich, weil sie Kommunikation, Koordination und Transaktionen organisieren und so alle möglichen Aufgaben erleichtern. Aber gerade weil sie nützlich sind, sind sie auch gefährlich, denn wir machen uns von ihnen und ihren tausenden Entscheidungen, die in der Infrastruktur stecken, abhängig. Plattformen verfügen daher über eine große Macht, sowohl gesellschaftlich, als auch über uns persönlich. Plattformen sind deswegen nicht grundsätzlich abzulehnen. Stattdessen muss immer wieder geprüft werden, von welchen Plattformen man sich abhängig macht.
Wie wird der Begriff erfasst/festgestellt?
Der Begriff „Plattform“ wird oft inflationär gebraucht. Das kann zu einiger Verwirrung führen. Für die Bestimmung, ob etwas eine Plattform ist oder nicht, stellt sich die oben angegebene Definition als zu allgemein heraus. Eine methodisch ausgefeiltere Definition könnte lauten:
„Plattformen sind erwartete Vorselektionen potentieller Verbindungen, die unerwartete Anschlussselektionen konkreter Verbindungen wahrscheinlicher machen.“
Diese Definition macht zwei Ebenen auf:
Ebene I umfasst die erwarteten, latenten Verbindungen. Das können die Telefon- oder Netzwerkkabel sein, ebenso die Userbase oder die Installed Base, also registrierte Nutzer*innen in einem sozialen Netzwerk bzw. vorhandene Anschlüsse in einem Telefonnetzwerk. Es können aber auch alle Geräte oder Software sein, die über eine definierte Schnittstelle betrieben werden, oder alle Systeme, die ein bestimmtes Protokoll implementiert haben. Also all das, was in der kurzen Definition oben mit „Infrastruktur“ gemeint ist.
Darüber gibt es die Ebene II: die unerwarteten, aber manifesten Verbindungen. Ebene I hat die Aufgabe, die konkrete Interaktion – also Ebene II – möglich zu machen. Das passiert über Standards, Verbreitung oder über algorithmisches Matching. Auf Ebene geschieht der eigentliche Austausch auf der Plattform.
Diese abstrakten Kriterien sollen es erleichtern, Plattformen von Nichtplattformen zu unterscheiden. Nur wenn eine Infrastruktur durch die Vorselektion von möglichen Verbindungen einen erwartbaren Rahmen für Interaktionen absteckt und nur wenn das dazu führt und führen soll, dass unerwartete Interaktionen möglich oder wahrscheinlicher werden, handelt es sich tatsächlich um eine Plattform. So kann man zum Beispiel auch in der U-Bahn unerwartete Anschlussselektionen konkreter Verbindungen haben – etwa seinen späteren Lebenspartner zufällig kennenlernen. Man kann sogar argumentieren, dass U-Bahnfahren solche Begegnungen wahrscheinlicher macht. Jedoch hält die U-Bahn zu diesem Zweck keine erwarteten Vorselektionen bereit, was deutlich macht: U-Bahnen sind für diesen Zweck keine Plattformen. Auf eine sehr basale Art bietet eine Party durch all die Rituale und eingespielten Erwartungen der Gäste tatsächlich gewisse erwartete Vorselektionen potentieller Verbindungen. Und diese vorselektierten Verbindungen haben tatsächlich auch das Ziel, unerwartete Anschlussselektionen konkreter Verbindungen (allgemeines Sich-Kennenlernen, anregende Partygespräche, unter Umständen sogar Flirts) zu ermöglichen. Es handelt sich bei Partys zwar nicht um Plattformen im technischen Sinn, aber man könnte von Partys durchaus als „soziale Plattformen“ sprechen.
Welche Bildungsprozesse gibt es dazu?
- Die Macht der Plattformen (Bundeszentrale)
Weiterführende Literatur
- Doctorow, Cory (2023): The Internet Con: How to Seize the Means of Computation.
- Giblin, Rebecca & Doctorow, Cory (2022): Chokepoint Capitalism: How Big Tech and Big Content Captured Creative Labor.
- Grewal, David Singh (2008): Network Power. The Social Dynamics of Globalization, New Haven.
- Moazed, Alex; Johnson, Nicholas L. (2017): Modern Monopolies – What It Takes to Dominate the 21st Century Economy, New York 2017.
- und Seemann!!!
- Staab, Philipp (2019): Digitaler Kapitalismus – Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit, Suhrkamp, Berlin.
Quellenverzeichnis
- ↑ Seemann 2021, S. 113 f.
- ↑ Vgl. Wolfgang Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch, https://www.dwds.de/wb/Plattform.
- ↑ Vgl. Timothy F. Bresnahan, Shane Greenstein: Technological Competition and the Structure of the Computer Industry, in: The Journal of Industrial Economics, 47(1), 1– 40, www.jstor.org/stable/117505, März 1999.
- ↑ Vgl. z.B.: W. H. Benson, J. L. McCarthy: Designing a Macintosh interface to a main- frame database, https://ieeexplore.ieee.org/document/48158, 1989.
- ↑ Jean-Charles Rochet, Jean Tirole: Platform Competition in Two-Sided Markets, https://academic.oup.com/jeea/article/1/4/990/2280902, 01. 06. 2003.
Die erste Version dieses Beitrags wurde von Michael Seemann erstellt.
Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2024. „Plattform.“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.