Glossar Digitale Souveränität
Filtersouveränität (Medienwissenschaft)
Informationsethisches Konzept von Michael Seemann, das die selbstbestimmte Organisation, das heißt Auswertung und Selektion bezeichnet, durch die aktive Nutzer_innen im Internet die von ihnen rezipierten Informationen mithilfe von technischen Filtern einschränken. Filtersouveränität sei als Gegenentwurf zur rechtlichen Kontrolle von Datenflüssen zu betrachten, wie sie beispielsweise im Datenschutz praktiziert werde. |
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge: |
Algorithmus (Medienwissenschaft), Daten (Medienwissenschaft), Datenschutz (Rechtswissenschaft), Echokammer (Medienwissenschaft), Filterblase (Medienwissenschaft), Homophilie (Medienwissenschaft), Informationelle Selbstbestimmung (Rechtswissenschaft), Informationszugang (Rechtswissenschaft), Öffentlichkeit (Medienwissenschaft), Plattformneutralität (Medienwissenschaft), Privatheit (Rechtswissenschaft), Transparenz (Rechtswissenschaft) |
Inhaltsverzeichnis
Was bezeichnet dieser Begriff?
Der Begriff Filtersouveränität ist eine Wortneuschöpfung des Medienwissenschaftlers Michael Seemann. Er bezeichnet zunächst eine Strategie der "Wissensorganisation"[1] von Personen zur Handhabung großer Informationsfluten im Internet. Technisches Instrument dieser Strategie ist die Query, also die Anfrage an einen Datensatz durch die Nutzer_innen dieses Datensatzes. Resultate dieser Querys äußern sich beispielsweise in der algorithmisch gestützten Gestaltung von Timelines und Newsfeeds auf sozialen Plattformen durch die User_innen und darin, welchen Profilen sie folgen oder welche Begriffe sie in eine Suchmaschine eingeben. Filtersouverän handelt also zunächst, wer in digitalen Umgebungen technische Konfigurationen so anwendet, dass diese relevante und den eigenen Interessen und Ansprüchen entsprechende Inhalte anzeigen und irrelevante oder gar schädliche Inhalte ausfiltern.
Äquivalent zur im Grundgesetz verankerten Informationsfreiheit unterscheidet Seemann zwischen zwei einander ergänzenden Ausrichtungen von Filtersouveränität: die positive und die negative. Positive Filtersouveränität meint sodann das Recht des_der Einzelnen, alle (öffentlich verfügbaren) Daten "mit eigenen Querys auswerten zu dürfen". Negative Filtersouveränität hingegen versteht sich als das Recht des_der Einzelnen, "sich gegen eintreffende Daten abschirmen" beziehungsweise alle "Datenquellen mit eigenen Filtern ausselektieren zu dürfen"[2].
Im weiteren Sinne soll mit dem Begriff Filtersouveränität über den individuellen Handlungsraum von Nutzer_innen hinaus anerkannt werden, dass Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert einem Strukturwandel unterliegt, der ein gesamtgesellschaftliches Umdenken in Bezug auf den Umgang mit Daten und Informationen notwendig macht. Der Begriff ist damit auch ein kritischer Gegenentwurf zum gesetzlich verankerten, restriktiv ansetzenden Datenschutz und zu der öffentlich viel diskutierten Privatsphäre. Laut Seemann sind derartige Konzepte zur Regulierung und Kontrolle von Informationsflüssen fragil gegenüber der tendenziell unkontrollierbaren Informationsflut und den damit einhergehenden Dynamiken besagter neuer Internetöffentlichkeiten. Stattdessen müssten Bedingungen geschaffen werden, unter denen "die Potenziale der Query allen zur Verfügung"[3] stehen und Daten offen genutzt werden dürfen.[4]
Woher kommt der Begriff?
Entwickelt wurde der Begriff der Filtersouveränität von dem Medien- und Kulturwissenschaftler Michael Seemann, der ihn als eine "Informationsethik"[5] begreift. Seemann geht davon aus, dass die durch das Internet und durch digitale Technologien generierten, ins Unermessliche wachsenden und flexibel verknüpfbaren Datenmengen eine Informationsflut bisher unbekannten Außmaßes erzeugen, sodass die im frühen 21. Jahrhundert lebenden Individuen, Akteur_innen und Gesellschaften wiederholt sogenannte Kontrollverluste erleben. Damit im Zusammenhang stünde, so Seemann, eine Umkehrung beziehungsweise "Invertierung"[6] von Öffentlichkeit. Denn einerseits verlieren diejenigen, welche nach dem klassischen Verständnis von (medialer) Öffentlichkeit als Sender_innen gelten konnten, nun tendenziell die Kontrolle über die ausgesandten Inhalte. So werden beispielsweise Fotos und Videos bereits kurz nach der Veröffentlichung derart häufig geteilt und versendet, also vervielfacht, dass eine nachträgliche Löschung kaum mehr erfolgreich umzusetzen ist. Auch sogenannte 'Shitstorms' auf Plattformen wie Twitter stellen ein Beispiel für Seemanns Definition des Kontrollverlusts dar. Entsprechend erlangen andererseits diejenigen, die im klassischen Sinne als Empfänger_innen bezeichnet werden konnten, eine neue "Autonomie"[7]: Anhand von personalisierten Filtereinstellungen, Likes und Abonnements können sich diese nämlich eine eigene "Query-Öffentlichkeit"[8] zusammenstellen und so entscheiden, welche Inhalte sie rezipieren wollen und welche nicht.[9] Seemann sieht darin einerseits ein vornehmliches Recht der Empfänger_innen, welches er mit Rekurs auf Eli Parisers Konzept[10] auch das "Recht auf die Filterblase"[11] nennt. Seemann bewertet Filterblasen entgegen der allgemeinen Auffassung als positiv, sofern damit ein "gezieltes Abonnieren von Accounts" gemeint sei. Kritisch zu sehen seien hingegen vollkommen automatisiert zusammengestellte News-Streams nach dem Modell Facebook, bei denen für die Nutzer_innen nicht ersichtlich werde, welche Algorithmen nach welchen Schemata bei der Einblendung und Sortierung von Informationen eingesetzt werden. Mit dem Rückgriff auf das umstrittene Konzept der Filterblase wäre auch die Auseinandersetzung mit den alternativen Konzeptionen der Homophilie und der Echokammer zu reflektieren.
In aller Konsequenz müssten laut Seemann gleichermaßen allen Nutzer_innen langfristig dezentrale technische Lösungen zum effektiven Schutz vor nicht erwünschter Kommunikation zur Verfügung gestellt werden.[12] Andererseits bedeute dies jedoch auch das Recht der Sender_innen auf Freiheit, den Ansprüchen und Erwartungen der Empfänger_innen nicht entsprechen zu müssen.[13]
Seemann plädiert dafür, die Vorzüge vernetzten Informationsaustausches nicht zuletzt auch politisch anzunehmen. In einer durch das Internet vollständig vernetzen Gesellschaft seien die Menschen selbst "Teil der Infrastruktur" und damit "Bereitsteller" der "Freiheit des Anderen"[14]. Seemann stützt sich dabei auf Emmanuel Levinas' Ethik, in der das gegenseitige Verhältnis und die Verantwortung dem_der jeweils Anderen gegenüber zur Grundlage für soziales Miteinander erklärt wird.[15] Insofern sei Filtersouveränität als eine "neue Form der Selbstbestimmung" anzusehen, bei der nicht länger auf restriktive Informationskontrolle gesetzt werde, wie dies im Recht auf informationelle Selbstbestimmung angelegt sei und durch Datenschutzbestimmungen durchgesetzt werden soll.[16] Vielmehr seien in einer idealerweise filtersouveränen Gesellschaft Strategien notwendig, "die auf Öffentlichkeit, Transparenz und Vernetzung setzen"[17]. Damit ist jedoch keine Rechtsfreiheit gemeint. Insbesondere große digital agierende Technologiekonzerne und Plattformbetreiber_innen müssten dazu angehalten werden, ihre Daten, die beispielsweise geschäftsinterne Prozesse abbilden, für alle transparent und gemäß der grundgesetzlichen Bestimmung zur Informationsfreiheit zugänglich zu machen. Der mit einer solchen Transparenz einhergehende Kontrollverlust sei nicht etwa schädlich für die Souveränität von Bürger_innen, sondern bestärke vielmehr die Möglichkeit einer gesamtgesellschaftlichen kritischen Auseinandersetzung mit ebendiesen Akteur_innen und deren Aktivitäten, die letzlich in einer Bewältigung von Machtasymmetrien und einer Stärkung von Selbstbestimmung münde.[18] Weiterhin sei dafür eine konsequente "Politik der Plattformneutralität"[19] unverzichtbar.
Weiterführende Literatur
- Seemann, Michael. 2012. „Vom Kontrollverlust zur Filtersouveränität.“ In #public life. Digitale Intimität, die Privatsphäre und das Netz. Schriftenreihe zu Bildung und Kultur, Band 8, herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung, 70-74. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung. https://www.boell.de/sites/default/files/2011-04-public_life.pdf.
- Seemann, Michael. 2014. Das Neue Spiel - Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. Freiburg: orange-press. https://www.ctrl-verlust.net/buch/.
Quellenverzeichnis
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- ↑ Pariser, Eli. 2012. Filter bubble: wie wir im Internet entmündigt werden. München: Hanser.
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- ↑ Levinas, Emmanuel. 1987. Totalität und Unendlichkeit: Versuch über die Exteriorität. Freiburg u.a.: Alber.
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- ↑ Seemann, Michael. 2010. "Managing CTRL-Verlust II – Plattformneutralität als Politik" ctrl-verlust. (30.04.). Aufgerufen am 27.05.2021, https://www.ctrl-verlust.net/managing-ctrl-verlust-ii-plattformneutralitat-als-politik/.
Die erste Version dieses Beitrags wurde von Vesna Schierbaum im Rahmen des Projekts "Digitale Souveränität" am Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht und am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln erstellt.
Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2021. „Filtersouveränität (Medienwissenschaft).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.