Glossar Digitale Souveränität
Exteriorität (Medienwissenschaft)
Exteriorität bezeichnet in der Forschung zu Diskursen medialer Kontrolle die Vorstellung, dass man beteiligte Akteure danach unterscheiden könne, wer zum eigentlichen Handlungskontext einer Kommunikation gehöre und wer von außerhalb in sie eingreife. Der Begriff drückt die Kritik an dieser Vorstellung aus. |
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge: Daten (Medienwissenschaft), Mediale Kontrolle (Medienwissenschaft), Öffentlichkeit (Medienwissenschaft), Personenbezogene Daten (Rechtswissenschaft), Ubiquität (Medienwissenschaft) |
Inhaltsverzeichnis
Was bezeichnet dieser Begriff?
Exteriorität bezeichnet in der Forschung zu Diskursen medialer Kontrolle die Vorstellung, dass man beteiligte Akteure danach unterscheiden könne, wer zum eigentlichen Handlungskontext einer Kommunikation gehöre und wer von außerhalb in sie eingreife. Der Begriff drückt die Kritik an dieser Vorstellung aus, insbesondere insofern dadurch die Normen, nach denen kontrolliert wird, verdeckt werden. Die Frage nach den Normen wird im komplementären Begriff der Ubiquität diskutiert, der eine andere Perspektive auf dieselben Fälle beschreibt.
Im Konzept der Exteriorität werden also Fragen danach verhandelt, wessen kontrollierender Eingriff in eine Kommunikation interveniert: Wer ist der Zensor, der ein Kunstwerk verbietet? Wer ist der Zeitungseigner, der eine bestimmte Nachricht forciert? Wer moderiert eine Online-Kommunikation und sichtet dafür teils personenbezogene Daten, auf die er sonst keinen Zugang hätte? Wer programmiert den Filter, der Daten schon beim Upload aussortiert?
Woher kommt der Begriff?
Der Begriff schließt an die Überlegungen des US-amerikanischen Rechtsphilosophen Frederick Schauer an, der die Auffassung vertritt, mediale Kontrolle und damit Zensur in einem sehr weiten Sinne dieses Begriffs sei unumgänglich. Entscheiden könne man aus ethischen, politischen, kulturellen, persönlichen und anderen Kriterien, wer als Kontrollinstanz Vertrauen verdiene.[1]
In einem Gedankenexperiment legt Schauer nahe, dass die Frage, wer als Zensor kritisiert werde, davon abhänge, wie die Grenzen um den einer Kommunikation eigenen Handlungsbereich gezogen werden. So werde man oft der Kuratorin eines Museums zugestehen, dass sie entscheidet, welche Kunstwerke ausgestellt werden und welche nicht; tritt aber ein politischer Offizier hinzu, der in ihre Entscheidungen eingreift, ist dieser Zensor. Ein Künstler aber, der sich zu Unrecht von der Kuratorin ausgeschlossen sieht, mag ihre Entscheidung als eine externe Intervention in seine Kommunikation mit seinem Publikum betrachten. Ein paternalistisch argumentierender Politiker wird andererseits vielleicht seine Intervention in das Handeln eines Museums wegen seiner Kompetenz oder wegen seines politischen Auftrags als Teil des genuinen Handlungsbereichs eines Museums verstehen.
Wonach muss ich fragen?
- Was gehört zum Handlungskontext einer Kommunikation? Was ist ihr äußerlich?
- Wer entscheidet, wie die Grenzen um das Innere einer Kommunikation gezogen werden?
- Von welchen Interessen und Positionen ist diese Grenzziehung abhängig?
- Wie legitimiert sich eine sichtbare, externe Kontrollinstanz?
- Welche Ubiquität wird von einem Fokus auf Exteriorität verdeckt -- von welchen unsichtbaren Normen lenkt die Sichtbarkeit der externen Kontrollinstanz ab?
Wann ist das wichtig?
Für die Erforschung medialer Kontrolle ist unter anderem die Beschreibung von Kontrolldiskursen entscheidend, also die Frage danach, wie über Kontrolle gesprochen, wie sie konzipiert, verstanden und deshalb umgesetzt wird. In Diskursanalysen zur medialen Kontrolle[2] erweist sich für moderne und postmoderne Situationen, in denen Kontrolle über Medien in der Regel legitimationsbedürftig ist, eine Spannung zwischen Auffassungen von bestimmten Kontrollmechanismen, die ihre Exteriorität in den Vordergrund stellen und solchen, die ihre Ubiquität betonen.
Exteriorität dient in Debatten um die Legitimation medialer Kontrolle zur Orientierung. Dabei gibt es sowohl Argumente, die Exteriorität fordern (nur Außenstehende können unparteiische Urteile fällen) als auch solche, die sie kritisieren (Außenstehende dürfen nicht in die Kommunikationsfreiheit unmittelbar Betroffener eingreifen).
Darüber hinaus begründet das mediale Wechselverhältnis zwischen Exteriorität und Ubiquität häufig Machtverhältnisse, in denen die ausschließliche Aufmerksamkeit für einen dieser beiden Pole den anderen verdeckt oder auch je nach politischer Absicht verdecken soll. So könnte etwa der Streit um die Priorität von Künstler, Kuratorin oder Politiker die Frage danach verdecken, welche gesellschaftlichen Vorurteile oder politischen Parteilichkeiten in der Entscheidung über das Zeigen oder Nichtzeigen eines Kunstwerks eine Rolle spielen.
Wie wird der Begriff erfasst/festgelegt?
Im Propagandamodell von Herman und Chomsky [3] aus den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wird Propaganda im wesentlichen als Einschränkung von Berichterstattung konzipiert. Sie wird damit nicht nur in die Nähe der Zensur gerückt, sondern durch die Beschreibung von fünf Filtern, die ansonsten erwartete Nachrichten aus der öffentlichen Kommunikation entfernen, als dominant exteriores Modell von Kontrolle entworfen: Mit den Eignern großer Medienverbünde, deren Abhängigkeit von Werbekunden und von Quellen und deren Angst vor öffentlicher Kritik sind vier externe Faktoren genannt, die einen näher und positiv gar nicht mehr bestimmten Journalismus beschneiden. Erst der fünfte, antikommunistische Filter beschreibt ein Modell der Ubiquität, indem dem dominierenden öffentlichen Diskurs vorgeworfen wird, jede Nachricht zu unterdrücken, die auch nur entfernt eine Sympathie mit kommunistischen, sowjetischen oder dieser Allianzen verdächtigten Akteuren verrate.
Allgemeiner stellt das Konzept der Exteriorität die Frage, wer eine bestehende Regel umsetzt, wer über ihre Kriterien entscheidet, und wer die Entscheidung exekutiert. Geistiges Eigentum etwa ist ein Anspruch; ob er von Urheber_innen, Verwertungsgesellschaften, Gerichten, Anwält_innen, mahnenden Kritiker_innen oder moderierenden Plattformbetreibenden umgesetzt wird, kann Fälle, in denen geistiges Eigentum eine Rolle spielt, massiv voneinander unterscheiden. In der kritischen Verwendung erinnert Exteriorität aber umgekehrt gerade daran, dass nicht jeder Fall von medialer Kontrolle allein durch die Beschreibung der Akteur_innen gut verstanden werden kann: Ob ein Anwalt, Gericht, eine Körperschaft, eine Plattform oder eine Kritikerin sich etwa auf Urheberrechte, Eigentumsrechte, Persönlichkeitsrechte oder allgemeine Moral berufen, wenn sie in eine Kommunikation eingreifen, darf von der Frage, wer über eine mögliche Intervention in eine Kommunikation entscheidet, nicht völlig verdeckt werden.
Welche Bildungsprojekte gibt es dazu?
- Der Index on Censorship sammelt seit Jahrzehnten Berichte über Zensur und fokussiert dabei regelmäßig auf die Frage nach den beteiligten Kontrollinstanzen: https://www.indexoncensorship.org/
- Webvideo-Projekt "Space Net": aufklärender Beitrag zum juristischen Begriffsverständnis der Zensur bezogen auf das Internet durch die Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/lernen/bewegtbild-und-politische-bildung/webvideo/space-net/312989/meinungsfreiheit-werden-wir-alle-zensiert/
Weiterführende Literatur
- Chomsky, Noam und Edward S. Hermann. 1988. Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media. New York: Pantheon Books.
- Schauer, Frederick. 1998. "The Ontology of Censorship." In Censorship and Silencing Practices of Cultural Regulation, herausgegeben von Robert C. Post. Los Angeles, CA: The Getty Research Institute for History of Art and the Humanities, 147–168.
- Packard, Stephan. 12.01.2023. "Mediale Kontrolle." In Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen, herausgegeben von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. URL: https://diskursmonitor.de/glossar/mediale-kontrolle. Zugriff am 07.10.2024.
Quellenverzeichnis
- ↑ Vgl. Schauer, Frederick. 1998. "The Ontology of Censorship." In Censorship and Silencing Practices of Cultural Regulation, herausgegeben von Robert C. Post. Los Angeles, CA: The Getty Research Institute for History of Art and the Humanities, 147–168.
- ↑ Vgl. Packard, Stephan. 2012. "Draußen und Überall. Zwei heuristische Begriffe zur Diskursanalyse medialer Kontrolle." Mediale Kontrolle unter Beobachtung 1(2), 1-29. DOI: 10.25969/mediarep/13775. Zugriff am 07.10.2024.
- ↑ Vgl. Chomsky, Noam und Edward S. Hermann. 1988. Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media. New York: Pantheon Books.
Die erste Version dieses Beitrags wurde von Stephan Packard erstellt.
Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2024. „Exteriorität (Medienwissenschaft).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.