Digitale Resignation (Medienbildung)

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Digitale Resignation bezeichnet einen Zustand, in dem sich Individuen dauerhaft außerstande fühlen, die Verwendung ihrer personenbezogenen Daten durch Organisationen so zu kontrollieren, wie sie es wollen.
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge:
Critical (Big) Data Literacy (Medienbildung), Data Literacy (Medienbildung), Datensouveränität, Digitale Aufklärung, Digitale Selbstbestimmung, Digitale Selbstverteidigung, Kontrollverlust (Medienwissenschaft), Mediale Kontrolle (Medienwissenschaft), Online-Privatheitskompetenz (Medienbildung), Personenbezogene Daten (Rechtswissenschaft), Privatheit (Rechtswissenschaft), Überwachung (Medienwissenschaft)


Was bezeichnet dieser Begriff?

Der Begriff der digitalen Resignation speist sich aus verschiedenen Disziplinen und hat dort teils etwas unterschiedliche Bedeutungen. Gemeinsam ist ihnen die Bezeichnung eines Zustands, in dem sich Individuen außerstande fühlen, die Verwendung ihrer personenbezogenen Daten durch Organisationen so zu kontrollieren, wie sie es wollen. Die unerwünschte Verwendung dieser Daten wird als unausweichlich und die eigene Situation als hilflos erfahren. Digitale Resignation besteht somit aus einem bestimmten Verhalten, das keine oder kaum Schritte zum Schutz der eigenen Daten unternimmt, und der begleitenden Einschätzung, dass ein solcher Schutz sehr wohl erwünscht, aber nicht erreichbar sei.

Die Möglichkeit von individueller Datensouveränität steht damit grundsätzlich in Frage, sofern nicht die Rahmenbedingungen für die Datenauswertung etwa durch gesetzliche Vorgaben eine Ermächtigung der User_innen wiederherstellen, wie sie dem Konzept einer vergemeinschafteten networked privacy nach Marwick und Boyd entspricht,[1] die den Handlungsbedarf nicht mehr bei Einzelnen ansiedelt.

Woher kommt der Begriff?

Der Begriff wurde von den Kommunikationswissenschaftler_innen Nora A. Draper und Joseph Turow 2019 geprägt.[2] Sie konzipieren digitale Resignation als soziopolitischen Prozess, in dem sich grundlegend ungleiche Machtverhältnisse zwischen großen und insbesondere ökonomischen Körperschaften und Individuen niederschlagen. Draper und Turow schließen dabei an empirische Forschung zur Resignation von Kund_innen an, die sich in vieler Hinsicht außerstande sehen, ihre Verhältnisse zu großen Unternehmen in ihrem Sinne zu beeinflussen, und dafür insbesondere die Routinierung von Kommunikationspraktiken auf Unternehmensseite verantwortlich machen, darunter insbesondere Obfuskation, also die gezielte Verunklarung von Informationen, wie sie andererseits auch als Taktik der digitalen Selbstverteidigung diskutiert wird.

Verwandt ist der Begriff der Online-Apathie nach Hargittai und Marwick,[3] der insbesondere in Bezug auf das Privatheitsparadox bei Jugendlichen diskutiert wird,[4] die ihre Privatheit einerseits schätzen und verteidigen wollen, aber in ihrer täglichen Praxis große Risiken vor allem in der Verwendung sozialer Medien eingehen. Demnach könne weder eine rationale Abwägung von Vor- und Nachteilen, etwa bei der Nutzung von Internetplattformen, noch ein mangelndes Wissen um die dortige Verwendung der eigenen Daten das Verhalten schlüssig erklären: die Nachteile seien durchaus bekannt und würden regelmäßig als größer eingeschätzt.[5] Ebenso berührt die Forschung zur digitalen Resignation das Konzept des Überwachungsrealismus nach Dencik und Cable,[6] die im Anschluss an den Kapitalismusrealismus nach Mark Fisher[7] in den öffentlichen und individuellen Reaktionen auf die Enthüllungen zur massenhaften Überwachung um Edward Snowden strikt zwischen der eintretenden Resignation und einem keineswegs vorliegenden Einverständnis der meisten Bürger_innen in die Preisgabe ihrer privaten Daten unterscheiden, obwohl angesichts der Ziele, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen, teilweise auch eine gewisse Akzeptanz für Überwachungsmechanismen beobachtet wird.[8] Im weiteren Sinne ist das Phänomen mit der Erfahrung von Kontrollverlust in der digitalisierten Gesellschaft verbunden.[9]

Wonach muss ich fragen?

  • Weiß ich, wie meine Daten verwendet werden?
  • Bin ich damit einverstanden?
  • Kann ich es ändern?
  • Was müsste gegeben sein, damit ich es ändern kann?
  • Benötige ich mehr Informationen?
  • Benötige ich andere technische Werkzeuge?
  • Welche politischen Veränderungen sind nötig?
  • Wie kann ich diese politischen Veränderungen unterstützen?

Wann ist das wichtig?

Die explizite Beschreibung und Feststellung von digitaler Resignation setzt Debatten Grenzen, die die Verantwortung für die Verteidigung der eigenen Privatheit nur bei Einzelnen sehen und als reines Problem der Medienbildung betrachten. Damit sind die unmittelbaren Einsatzbereiche für dieses Konzept zunächst dieselben wie für die optimistischeren Begriffe der Critical (Big) Data Literacy, Online-Privatheitskompetenz oder digitalen Selbstbestimmung. Statt aber jeweils zu fragen, wie Einzelne sich in diesen Situationen ermächtigen können, wird mit dem Konzept der digitalen Resignation die Möglichkeit sichtbar gemacht, dass der Schutz individuell gar nicht erreicht werden kann und stattdessen als gesellschaftliche und politische Aufgabe zu begreifen sei.

Wie wird der Begriff erfasst/festgestellt?

Digitale Resignation wird in der Regel empirisch über Befragungen von Individuen erhoben, die nach ihrer Einschätzung und ihrem alltäglichen Umgang mit ihren personenbezogenen Daten gefragt werden. Dabei ist die Forschung insbesondere von drei kommunikationswissenschaftlichen Studien geprägt: Der begriffsprägenden Arbeit zum ökonomischen Verhalten von Turow und Draper, der Kund_innenforschung zum Umgang mit sozialen Netzwerken von Hargittai und Marwick, und der theoretisch weiterreichenden medienpolitischen Arbeit von Dencik und Cable.[10]

Turow, Hennessy und Draper konnten zeigen,[11] dass digitale Resignation mit zunehmendem Wissen um die Verwendung von Daten zu- und nicht etwa abnimmt, wie es viele Konzepte zur aufklärerischen Ermächtigung von User_innen nahelegen, so etwa die Bildungsbegriffe der Data Literacy und Critical (Big) Data Literacy ebenso wie der Online-Privatheitskompetenz und der politische Begriff der digitalen Selbstbestimmung. Insbesondere geht das unkritische Teilen eigener Daten in der Praxis keineswegs mit einem tatsächlichen Einverständnis mit den Konsequenzen einher.[12]

So wird die unerwünschte Verwendung der eigenen Daten auch deshalb als unausweichlich eingeschätzt, weil die technischen Fertigkeiten, die eine digitale Selbstverteidigung verlangen würde, als unerreichbar angesehen werden. Nach den Ergebnissen von Dencik und Cable werden vorhandene Werkzeuge etwa zur Anonymisierung und zum Einsatz von Kryptographie kaum eingesetzt, obwohl der Wunsch besteht.[13] Nach Hargittai und Marwick greifen User_innen eher zu einfacheren und ineffizienten Verfahren oder üben Selbstzensur.[14]

Weiterführende Literatur

  • Andrejevic, Mark. 2007. iSpy: surveillance and power in the interactive era. Lawrence, Kansas: University Press of Kansas.
  • Dencik, Lina und Jonathan Cable. 2017. "Digital Citizenship and Surveillance | The Advent of Surveillance Realism: Public Opinion and Activist Responses to the Snowden Leaks." International Journal of Communication 11, S. 763-781. ISSN 1932-8036. Aufgerufen am 27.09.2022. https://ijoc.org/index.php/ijoc/article/view/5524.
  • Draper, Nora A. und Joseph Turow. 2019. "The corporate cultivation of digital resignation." New Media & Society 21(8), S. 1824–1839. Aufgerufen am 27.09.2022. https://doi.org/10.1177/1461444819833331.
  • Hargittai, Eszter und Alice Marwick. 2016. “'What Can I Really Do?' Explaining the Privacy Paradox with Online Apathy." International Journal of Communication 10, S. 3737–3757. Aufgerufen am 27.09.2022. https://ijoc.org/index.php/ijoc/article/view/4655.

Quellenverzeichnis

  1. Marwick, Alice E. und danah boyd. 2014. "Networked privacy: How teenagers negotiate context in social media." New Media & Society 16(7), S. 1051–1067. Aufgerufen am 02.02.2023. https://doi.org/10.1177/1461444814543995, vgl. Hargittai, Eszter und Alice Marwick. 2016. “'What Can I Really Do?' Explaining the Privacy Paradox with Online Apathy." International Journal of Communication 10, S. 3737–3757. Aufgerufen am 27.09.2022. https://ijoc.org/index.php/ijoc/article/view/4655.
  2. Draper, Nora A. und Joseph Turow. 2019. "The corporate cultivation of digital resignation." New Media & Society 21(8), S. 1824–1839. Aufgerufen am 02.02.2023. https://doi.org/10.1177/1461444819833331.
  3. online apathy; vgl. Hargittai, Eszter und Alice Marwick. 2016. “'What Can I Really Do?' Explaining the Privacy Paradox with Online Apathy." International Journal of Communication 10, S. 3737–3757. Aufgerufen am 27.09.2023. https://ijoc.org/index.php/ijoc/article/view/4655.
  4. Hoffmann, Christian Pieter, Christoph Lutz und Giulia Ranzini. 2016. "Privacy cynicism: A new approach to the privacy paradox." Cyberpsychology: Journal of Psychosocial Research on Cyberspace 10(4). Aufgerufen am 02.02.2023. doi: 10.5817/CP2016-4-7. Abrufbar unter: https://cyberpsychology.eu/article/view/6280/5888.
  5. Turow, Joseph, Michael Hennessy und Nora A. Draper. 2015. "The Tradeoff Fallacy: How Marketers are Misrepresenting American Consumers and Opening Them Up to Exploitation". Philadelphia: University of Pennsylvania, S. 9. Aufgerufen am 07.12.2023. http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.2820060. Und Hargittai, Eszter und Alice Marwick. 2016. “'What Can I Really Do?' Explaining the Privacy Paradox with Online Apathy." International Journal of Communication 10, S. 3752. Aufgerufen am 27.09.2022. https://ijoc.org/index.php/ijoc/article/view/4655.
  6. surveillance realism; vgl. Dencik, Lina und Jonathan Cable. 2017. "Digital Citizenship and Surveillance | The Advent of Surveillance Realism: Public Opinion and Activist Responses to the Snowden Leaks." International Journal of Communication 11, S. 763-781. ISSN 1932-8036. Aufgerufen am 27.09.2022. https://ijoc.org/index.php/ijoc/article/view/5524.
  7. Fisher, Mark. 2009. Capitalist Realism: Is there no alternative? Winchester: Zero Books.
  8. Dencik, Lina und Jonathan Cable. 2017. "Digital Citizenship and Surveillance | The Advent of Surveillance Realism: Public Opinion and Activist Responses to the Snowden Leaks." International Journal of Communication 11, S. 769-771. ISSN 1932-8036. Aufgerufen am 27.09.2022. https://ijoc.org/index.php/ijoc/article/view/5524.
  9. Vgl. auch Europäische Kommission, Generaldirektion Justiz und Verbraucher, und TNS Opinion & Social 2015. Data protection: Report. Brüssel: Europäische Kommission, S. 115. Aufgerufen am 12.05.2020. http://dx.publications.europa.eu/10.2838/552336.
  10. Draper, Nora A. und Joseph Turow. 2019. "The corporate cultivation of digital resignation." New Media & Society 21(8), S. 1824–1839. Aufgerufen am 27.09.2022. doi: 10.1177/1461444819833331. https://doi.org/10.1177/1461444819833331.; Hargittai, Eszter und Alice Marwick. 2016. “'What Can I Really Do?' Explaining the Privacy Paradox with Online Apathy." International Journal of Communication 10, S. 3737–3757. Aufgerufen am 27.09.2022. https://ijoc.org/index.php/ijoc/article/view/4655.; Dencik, Lina und Jonathan Cable. 2017. "Digital Citizenship and Surveillance | The Advent of Surveillance Realism: Public Opinion and Activist Responses to the Snowden Leaks." International Journal of Communication 11, S. 763-781. ISSN 1932-8036. Aufgerufen am 27.09.2022. https://ijoc.org/index.php/ijoc/article/view/5524.
  11. Turow, Joseph, Michael Hennessy und Nora A. Draper. 2015. "The Tradeoff Fallacy: How Marketers are Misrepresenting American Consumers and Opening Them Up to Exploitation". Philadelphia: University of Pennsylvania, S. 17. Aufgerufen am 07.12.2022. http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.2820060.
  12. Turow, Joseph, Michael Hennessy und Nora A. Draper. 2015. "The Tradeoff Fallacy: How Marketers are Misrepresenting American Consumers and Opening Them Up to Exploitation". Philadelphia: University of Pennsylvania, S. 3. Aufgerufen am 07.12.2022. http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.2820060.
  13. Dencik, Lina und Jonathan Cable. 2017. "Digital Citizenship and Surveillance| The Advent of Surveillance Realism: Public Opinion and Activist Responses to the Snowden Leaks." International Journal of Communication 11, S.772. ISSN 1932-8036. Aufgerufen am 27.09.2022. https://ijoc.org/index.php/ijoc/article/view/5524.
  14. Hargittai, Eszter und Alice Marwick. 2016. “'What Can I Really Do?' Explaining the Privacy Paradox with Online Apathy." International Journal of Communication 10, S. 3753. Aufgerufen am 27.09.2022. https://ijoc.org/index.php/ijoc/article/view/4655.

Die erste Fassung dieses Beitrags wurde von Stephan Packard auf Grundlage eines Entwurfs von Ina Sander erstellt.

Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2022. „Digitale Resignation (Medienbildung).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.