Glossar Digitale Souveränität
Digitale Aufklärung (Medienbildung)
Digitale Aufklärung überträgt Grundgedanken der europäischen Aufklärung auf den reflexiven und praktischen Umgang mit digitalen Technologien in der heutigen Zeit. Ihr Ziel ist digitale Mündigkeit und die Stärkung des reflexiven, selbstbestimmten, autonomen und mitbestimmenden Subjekts in der digitalen Welt. |
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge: |
Digitale Mündigkeit (Medienbildung), Digitalisierung (Medienwissenschaft), Fehlinformation (Medienökonomie), Informationelle Selbstbestimmung (Medienwissenschaft), Medienkompetenz (Medienbildung) |
Inhaltsverzeichnis
Was bezeichnet dieser Begriff?
Digitale Aufklärung verbindet programmatisch die historische Idee der Aufklärung aus dem 18. Jahrhundert mit den gegenwärtigen Bildungsherausforderungen in der digitalen Gesellschaft. Auf der historischen Entwicklungsgrundlage eines selbstreflektierenden und selbstbestimmten Subjekts verfolgt das Programm einer digitalen Aufklärung die Förderung ermächtigender Kompetenzen und digitaler Souveränität in der digitalen Welt. Der Begriff "digitale Aufklärung" bezieht sich auf den Prozess, durch den Menschen ein kritisches Verständnis der digitalen Technologien und ihrer sozialen, politischen und kulturellen Implikationen entwickeln. Es geht darum, die Funktionsweisen von Algorithmen, die fortschreitende Datafizierung und den Einfluss digitaler Plattformen zu durchschauen, um eine selbstbestimmte Nutzung zu fördern.
Forderungen nach digitaler Aufklärung finden sich in Bildungsprogrammen, Manifesten und Erklärungen[1], in Regierungsprojekten[2] oder politischen Programmen. Eine digitale Aufklärung soll heute den Menschen frei nach Kants Maxime aus der aufklärerischen Philosophie des 18. Jahrhunderts[3] aus seiner selbstverschuldeten digitalen Unmündigkeit in die digitale Mündigkeit hinüberführen. Notwendig sind hierzu entsprechende Sensibilisierungs- und Bildungsprogramme.
Woher kommt der Begriff?
Häufig genannter historischer Bezugspunkt ist Immanuel Kants berühmte "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" von 1784: "Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"[4]
So greift Wittpahl (2017) als Herausgeber eines Bands zu 'Digitaler Souveränität' im Vorwort das Zitat von Immanuel Kant direkt auf und formuliert entsprechend: "Digitale Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten digitalen Unmündigkeit. Digitale Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes und digitaler Systeme ohne Leitung eines anderen Menschen, Unternehmens oder einer Maschine zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese digitale Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude!"[5] Initiativen wie etwa der "Deutschland Dialog für digitale Aufklärung" setzen entsprechende Ziele für Bürger_innen: "Die Chancen der Digitalisierung verstehen, ihre Vorbehalte einschätzen können, selbstbestimmt und sicher handeln."[6]
Kritik an den Idealen der Aufklärung sowie an ihrer Übertragung auf die digitalisierten Lebensumgebungen der Gegenwart setzen an verschiedenen Punkten an. Dass die Aufklärung ihre Ausweitung allgemeiner Menschenrechte und -bildung in der Realität immer wieder exklusiv vertreten und etwa rassistische, kolonialistische, patriarchale und klassistische Ausschlüsse produziert hat, wird auch Gleichheitsmaximen im digitalen Raum vorgeworfen.[7] Dass die Philosophie der Aufklärung auf starke, freie individuelle Subjekte setze, deren Existenz immer schon fraglich gewesen sein könnte oder jedenfalls in der massiven Vernetzung und Bedingtheit von Handlung und Denken im digitalisierten Alltag fraglich wird, haben Interventionen wie Larry Catà Backer diskutiert.[8]
Im Sinne einer 'Dialektik der digitalen Aufklärung' im Anschluss an Theodor W. Adornos und Max Horkheimers kulturkritische Philosophie aus der Mitte des 20. Jahrhunderts[9] wird kritisch diskutiert, wie dieser Aufklärungsprozess 'umschlagen' kann, wenn die kritische Reflexion der digitalen Technologien zum Beispiel zu Überforderung, Resignation oder gar zu Akzeptanz von Überwachung führt. Digitale Aufklärung darf nicht bei der Notwendigkeit, die technologischen Mechanismen zu durchschauen, stehen bleiben, sondern muss auch die strukturellen Machtverhältnisse, die möglichen Gefahren der Totalüberwachung und die gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte kritisch reflektieren.
In "Did Media Literacy Backfire?" argumentiert Danah Boyd[10], dass die Probleme der sogenannten 'Fake News' und der Verbreitung von Verschwörungstheorien zum Teil ihren Ursprung in den Bemühungen hätten, Medienkompetenz (bzw. Media Literacy) zu fördern und die Menschen gegen Fehlinformationen aufzuklären: "Media literacy asks people to raise questions and be wary of information that they’re receiving. People are. Unfortunately, that’s exactly why we’re talking past one another."[11] Der Kern des Problems seien tiefere kulturelle Gräben, mit denen wir lernen müssen umzugehen.
Wonach muss ich fragen?
- Was bedeutet Aufklärung heute mit Blick auf die digitale Welt?
- Was sind die Grenzen der Aufklärung?
- Wo scheitert Aufklärung?
- Wann und wie kann die Aufklärung 'umschlagen'?
- Wer kann worüber aufklären?
Welche Bildungsprojekte gibt es dazu?
- Deutschland sicher im Netz ist eine vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) geförderte Informationsseite zur Weiterbildung in Fragen der digitalen Kompetenz für Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus unterschiedlichen Bereichen: https://www.sicher-im-netz.de/
Weiterführende Literatur
- Leineweber, Christian. 2021. "Digitale Aufklärung? Datenkritik und Urteilsfähigkeit." In Algorithmisierung und Autonomie im Diskurs – Perspektiven und Reflexionen auf die Logiken automatisierter Maschinen, herausgegeben von Christian Leineweber und Claudia de Witt. Hagen: FernUniversität in Hagen, 125–154. URL: https://www.fernuni-hagen.de/bildungswissenschaft/bildung-medien/medien-im-diskurs/algorithmisierung-und-autonomie.shtml. Zugriff am 15.10.2024.
- Noller, Jörg. 2024. "Digitale Mündigkeit und digitale Tugenden." In Was ist digitale Philosophie? Phänomene, Formen und Methoden, herausgegeben von Sybille Krämer und Jörg Noller. Paderborn: Brill, 249–260. DOI: 10.30965/9783969752975_014. Zugriff am 15.10.2024.
- Wagner, Edgar. 2013. "Digitale Aufklärung – Medienkompetenz als Bildungsaufgabe." In Facebook, Google & Co.: Chancen und Risiken, herausgegeben von Hermann Hill, Mario Martini und Edgar Wagner, Verwaltungsressourcen und Verwaltungsstrukturen 23. Baden-Baden: Nomos, 143–150. DOI: https://doi.org/10.5771/9783845247243. Zugriff am 15.10.2024.
- Atteneder, Helena et al. 2017. Digitale Aufklärung - Herausforderungen des Wandels. (Zeitschriftenband) MedienJournal 41(1). URL: https://netlibrary.aau.at/medienjournal/periodical/titleinfo/9051278. Zugriff am 15.10.2024.
Quellenverzeichnis
- ↑ Dirk Helbing et al. forderten beispielsweise, "die Mündigkeit der Bürger in der digitalen Welt zu fördern – eine 'digitale Aufklärung'" in einem Digitalen Manifest. Vgl. Helbing, Dirk et al. 2017. "Digitale Demokratie statt Datendiktatur." In Unsere digitale Zukunft, herausgegeben von Carsten Könneker. Berlin/Heidelberg: Springer, 3–21. DOI: 10.1007/978-3-662-53836-4_1. Zugriff am 15.10.2024.
- ↑ Wie etwa dem Netzwerk für digitale Aufklärung - eine Suchmaschine der Bundesregierung: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/start-des-pilotprojekts-des-netzwerk-fuer-digitale-aufklaerung-unter-www-bundesregierung-de-netzwerkda-1947788. Zugriff am 15.10.2024.
- ↑ Vgl. Kant, Immanuel. 1784. "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" Berlinische Monatsschrift 12: 481–494.
- ↑ Kant, Immanuel. 1784. "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" Berlinische Monatsschrift 12: 481–494, hier 481.
- ↑ Wittpahl, Volker. 2017. "Vorwort." In Digitale Souveränität. Bürger, Unternehmen, Staat, herausgegeben von Volker Wittpahl. Berlin/ Heidelberg: Springer, 5–7, hier 7. URL: https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-55796-9. Zugriff am 15.10.2024.
- ↑ Deutschland sicher im Netz. 2019. "Deutschland Dialog für digitale Aufklärung. Gemeinsam für digitale Aufklärung!" Sicher im Netz. URL: https://www.sicher-im-netz.de/deutschland-dialog-f%C3%BCr-digitale-aufkl%C3%A4rung. Zugriff am 15.10.2024.
- ↑ Vgl. Fraser, Nancy. 1990. "Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy." Social Text 25/26: 56–80. DOI: 10.2307/466240; Kukutai, Tahu und John Taylor (Hrsg.). 2016. Indigenous Data Sovereignty: Toward an Agenda. Centre for Aboriginal Economic Policy Research (CAEPR) 38. Canberra: ANU Press. URL: https://www.jstor.org/stable/j.ctt1q1crgf. Zugriff am 23.10.2024.
- ↑ Vgl. Backer, Larry C. 2021. "Schwarze Listen und Social Credit-Regime in China." In Super-Scoring? Datengetriebene Sozialtechnologien als neue Bildungsherausforderung, herausgegeben von Harald Gapski und Stephan Packard. Schriftenreihe zur digitalen Gesellschaft NRW, Bd. 6. Düsseldorf/München: kopaed, 67–87.
- ↑ Vgl. Adorno, Theodor W. und Max Horkheimer. 1947. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Friedrich Pollock zum 50. Geburtstag. Erweiterte Fassung. Amsterdam: Querido.
- ↑ Vgl. Boyd, Danah. 2017. "Did Media Literacy Backfire?" Medium (05. Januar). URL: https://medium.com/datasociety-points/did-media-literacy-backfire-7418c084d88d. Zugriff am 15.10.2024.
- ↑ Boyd, Danah. 2017. "Did Media Literacy Backfire?" Medium (05. Januar). URL: https://medium.com/datasociety-points/did-media-literacy-backfire-7418c084d88d. Zugriff am 15.10.2024.
Die erste Version dieses Beitrags wurde von Harald Gapski im Rahmen des Projekts "Digitale Souveränität" am Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht und am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln erstellt.
Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2024. „Digitale Aufklärung (Medienbildung).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.