Glossar Digitale Souveränität
Crowdsourcing (Medienwissenschaft)
Ein Modell der Arbeitsorganisation, in dem Arbeits- und Kreativprozesse an eine extrinsisch oder intrinsisch motivierte Masse von Internet-User_innen ausgelagert werden. Wegen der oftmals geringen Kompensation für die erbrachte Arbeit und der oft unbewussten Partizipation der User_innen bei der täglichen Nutzung datengetriebener Dienste ist das Modell umstritten. |
Dieser Artikel verweist auf folgende weitere Beiträge: |
Big Data (Medienwissenschaft), Daten (Medienwissenschaft), Ideologie (Medienwissenschaft), Künstliche Intelligenz (Medienwissenschaft), Mediale Kontrolle (Medienwissenschaft), Netzwerk (Medienwissenschaft), Öffentlichkeit (Medienwissenschaft), Privatheit (Rechtswissenschaft), Propaganda (Medienwissenschaft), Überwachung (Medienwissenschaft) |
Inhaltsverzeichnis
Was bezeichnet dieser Begriff?
Crowdsourcing bezeichnet ein Modell der Arbeitsorganisation, in dem Teilbereiche von Arbeits- und Kreativprozessen an eine Masse von Internet-User_innen ausgelagert werden. Dieser Prozess wird in ökonomischen Diskursen als „eine interaktive Form der Arbeit, die kollaborativ oder wettbewerbsorientiert organisiert ist“[1] beschrieben. Als Weiterentwicklung des Outsourcens (der Auslagerung von Arbeitsprozessen, meist an Arbeitskräfte im Ausland), bezieht das Crowdsourcing sein Netzwerk von Arbeiter_innen aus dem Internet. Aufgrund der Geschwindigkeit, Reichweite, zeitlichen Flexibilität, Anonymität, Interaktivität und Zugänglichkeit wird das Internet als ideale Plattform für Crowdsourcing beschrieben.[2]
Die Erstellung von Crowdsourcing-Projekten geht meist von Organisationen oder Unternehmen aus, die bestimmte Arbeitsaufträge von einem Kollektiv bearbeiten lassen wollen. Die Anwendungsgebiete von Crowdsourcing sind dabei sehr vielfältig und umfassen unter anderem Produktentwicklung, Marktforschung, Content-Erstellung, Übersetzung, Wissensmanagement oder einzelne Problemlösungen. Wie auch beim Outsourcen ist ein bedeutender Faktor die Reduzierung von Kosten, da die Crowd – wenn überhaupt – meist deutlich geringfügiger kompensiert wird als unternehmensinterne Arbeitskräfte.[3]
Der Kommunikationswissenschaftler Daren C. Brabham betont als elementaren Baustein des Crowdsourcing den wechselseitigen Gewinn für die Organisation sowie für die Community.[4] Während die monetäre Arbeitskompensation meist eher gering ausfällt, werben Crowdsourcing-Projekte häufig mit kreativen und kollaborativen Arbeitsprozessen[5] und zeitlicher sowie räumlicher Flexibilität.[6] Die Betonung von Kollaboration und Community verweist auch auf die dem Crowdsourcing unterliegende Ideologie der Schwarm- und kollektiven Intelligenz, nach der eine möglichst große Mengen an Individuen effektiver Probleme bearbeiten kann: „a large group of people can offer solutions to research questions and data analysis that would be unavailable to the individual or small group”.[7]
Am Beispiel der digitalen Enzyklopädie Wikipedia lässt sich verdeutlichen, dass die Grenzen von Crowdsourcing unscharf sind: In einigen Fällen – wie auch in dem begriffsgründenden Wired-Artikel von Jeff Howe – wird Wikipedia explizit als Crowdsourcing-Projekt aufgeführt.[8] Andere Autor_innen betonen, dass es sich bei Wikipedia nicht um Crowdsourcing handelt, da es keine zentralen Anweisungen oder Richtlinien gibt, zu welchen Themen Beiträge verfasst werden sollen und wie diese inhaltlich aufgebaut sind – die Crowd agiere selbstständig.[9] Da die Wikipedia als Open Source funktioniert und kein Unternehmen von dem User-generated Content profitiert, fällt sie nicht unter die hier angewendete Definition. Der Medienwissenschaftler Henry Jenkins bezeichnet die Wikipedia als "self-correcting adhocracy"[10] und "knowledge community"[11] und damit als Beispiel für Pierre Lévys Theorie der kollektiven Intelligenz.[12]
Den ökonomischen Darstellungen von Crowdsourcing als demokratisierendes und wechselseitig profitables Konzept stehen kritische Theorien gegenüber. Als Weiterführung des Konzepts bedient sich das Crowdsensing an den sensorischen Möglichkeiten mobiler Endgeräte, um Daten über Umweltphänomene, Infrastruktur oder individuell-soziales Verhalten zu sammeln.[13] Diese Prozesse bezeichnet der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Till A. Heilmann als Datenarbeit: „alle Vorgänge und Abläufe […], in welchen durch Verfahren des capture aus beliebigen Aktivitäten Daten gewonnen werden, die von kommerziell operierenden Unternehmen angeeignet und ökonomisch verwertet werden“[14]. Die Crowd sammelt hier unbewusst und fortlaufend große Mengen an Daten (Big Data). Dadurch wird Crowdsourcing schlussendlich ubiquitär und Nutzer_innen von mobilen Endgeräten ist es fast unmöglich, nicht selbst Teil der datengenerierenden Crowd zu werden.
Woher kommt der Begriff?
Der Begriff Crowdsourcing wurde im Jahr 2006 von Jeff Howe in seinem Artikel "The Rise of Crowdsourcing" für die Zeitschrift Wired geprägt. Im Artikel bezeichnet Howe Crowdsourcing als neuen Pool von billigen Arbeitskräften. Von Stockfotos[15] und User-generated Content bei Fernsehsendungen bis hin zu vorgeschlagenen Lösungen im Bereich Research and Development produziert die Crowd produziert Produkte beziehungsweise bietet Leistungen zu einem sehr niedrigen Preis an. Howe beobachtet, dass mit Blick Fotos von professionellen Fotograf_innen und Fotos von Amateur_innen nicht mehr unterscheidbar sind und dass Unterhaltung für die Masse wird von der Masse erstellt wird. Laien können ohne fachliches Wissen innovative Lösungen für Probleme anbieten, die Fachkräfte längst nicht lösen konnten. Dabei betont Howe, dass Crowdsourcing ein neues (Arbeits-)Modell ist, welches über das überholte Outsourcing hinaus geht.[16] Der Terminus Crowdsourcing setzt sich aus den Wörtern "Crowd" (Masse) und "Outsourcing"[17] (Auslagerung) zusammen.[18]
In diesem Abschnitt werden einige Diskurse um das Konzept der "Masse" beziehungsweise die Genealogie des Massenbegriffs erläutert, um das Phänomen des Crowdsourcing und den damit verbundenen Wandel von klassischen zu digitalen Massen besser zu verstehen. Die Differenz zwischen der alten und neuen Imagination von Massen in verschiedenen Epochen folgt nicht zuletzt verschiedenen medialen Strukturen.[19] Die Faszination an den Massen ist bereits mit dem Aufstieg der Industrialisierung, vor allem im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, zu finden. Viele zeitgenössische Wissenschaftler_innen (darunter zum Beispiel die Soziologen Gustave Le Bon oder Gabriel Tarde) haben das Phänomen der sozialen Masse untersucht und theoretisiert. Bei den dabei entstandenen Massendiskursen ist zu beachten, dass sie Phantasmen, Imaginationen und Ideologien darstellen. Denn die Massen werden seit der Moderne in diesen Diskursen imaginiert, um Kontrollpraktiken, unter anderem mediale Kontrolle, auszuüben.
Dabei wird Macht via Medien, etwa durch Verfahren wie Propaganda[20], ausgeübt.[21] Durch Verfahren wie statistische Erhebungen und Biometrik lassen sich die Massen identifizieren und potentiell steuern. So gilt die Entstehung des Passes, der im Jahr 1795 eingeführt wurde, als Vorläufer der Biometrik. Interessanterweise wurde der erste Pass aus Angst vor der (Massen-)Mobilität eingeführt.[22] Die Regierung fürchtete Migration und Mobilität der Massen als Folge der Industrialisierung und der beschleunigten Urbanisierung. Anhand der klassischen Massentheorie des 19. und 20. Jahrhunderts lässt sich außerdem zeigen, wie traditionelle Dichotomien, beispielsweise Individuum/Masse oder Privatheit/Öffentlichkeit, über Konzepte von Massen verhandelt werden.[23] Das alte Massenkonzept geht von dem aufgeklärten Modell bürgerlicher Öffentlichkeit aus und wurde zudem aus der Perspektive der sozialen Eliten kulturell-kritisch formuliert.[24]
Nach der digitalen Transformation verwandelt sich hingegen die neue Masse in die Crowd-Intelligence des digitalen Zeitalters. Dabei haben sich die digitalen Massen beziehungsweise die sogenannten intelligenten Schwärme in der Imagination ihrer Konzeption Gefühle sowie Ethiken der Kooperation angeeignet und praktizieren diese in großem Umfang. Diese soziotechnischen Werte werden dennoch von außen zugeschrieben und generieren die neuen Vorstellungen der Massen sowie die damit verbundene Dichotomie von Subjekt und Kollektiv.[25] Am Beispiel des wohl ersten Citizen-Science-Projekts[26] aus dem Jahr 1928 lassen sich die Tendenzen zur Bildung einer kooperierenden und aktiv-teilnehmenden Masse bereits beobachten. Am Projekt des Ornithologen Max Nicholson nahmen hunderte Laien aus ganz Großbritannien teil. Dabei wurden Daten über Vogelarten gesammelt und den Ornithologen übermittelt. [27]
Laut einigen Anhänger_innen der Cyberkultur wirken Medien demokratisierend oder stellen einen Ort der Freiheit dar; sie ermölichen eine Flucht vor der Machtausübung der Regierung. So argumentieren etwa Denker_innen in den 1990er Jahren in kanonischen Texten wie "A Declaration of the Independence of Cyberspace" (John Perry Barlow, 1996)[28], "The Hacker Manifesto" (Loyd Blankenship, 1986)[29], "Hackers: Heroes of the Computer Revolution" (Steven Levy, 1984)[30] oder der "Whole Earth Catalog" (Steward Brandt, 1971)[31]. Hier wird Hackerkultur mit einer Philosophie der Befreiung und dem Internet als Raum der Liberalisierung verbunden. Interessanterweise wird diese ideologische Vorstellung auch von heutigen Big Data- Unternehmen im Kontext von Crowdsourcing propagiert und reproduziert.
Doch werden die Massen auch trotz des von der Cyberkultur genannten liberalen Aspekts der Medien im digitalen Raum kontrolliert beziehungsweise überwacht. Nun verwandelt sich die Propaganda aus dem analogen Zeitalter in eine aggressive Online-Werbung. Auf Basis der Zusammenarbeit und des Eindrucks der Selbstführung werden möglichst viele Internet-User_innen motiviert, um an Crowdsourcing-Projekten teilzunehmen. So spiegelt sich der sogenannte Überwachungskapitalismus[32] im Crowdsourcing wider.
Wonach muss ich fragen?
- Welche Gütekriterien sind auf Crowdsourcing-Projekte anzuwenden?
- Welche Probleme ergeben sich, wenn Crowdsourcing wirtschaftlich genutzt wird?
- Wie äußern sich bestimmte Ideologien in einzelnen Crowdsourcing-Projekten?
- Wem gehören die crowd-gesourcten Daten?
- Wie werden die gewonnenen Daten weiterverarbeitet und zu welchem Zweck?
- In welchem Verhältnis stehen die imaginierten Strukturen von Massen und Medien beim Crowdsourcing?
- Wird die Crowd für ihre Arbeit angemessen entlohnt?
- Ist der Crowd bewusst, dass sie am Crowdsourcing von Daten teilnimmt?
- Kann Crowdsourcing Expert_innen-Meinungen ersetzen?
- Wo liegt das epistemische Potenzial von Crowdsourcing?
Wann ist das wichtig?
Aufgrund der großen Vielfalt von Anwendungsgebieten und der leichten Zugänglichkeit über das Internet sind Crowdsourcing-Projekte in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Bereiche, in denen Crowdsourcing häufig genutzt wird, sind unter anderem das Marketing, die Produktentwicklung, die Marktforschung, die Content-Erstellung und -Moderation in verschiedenen Segmenten, die Datenanalyse, die Sprachverarbeitung sowie Übersetzung, die Problemlösung und Forschung. Die Wirtschaftsinformatiker_innen Martin, Lessmann und Voß weisen in ihrem Paper zu praktischen Ausprägungen von Crowdsourcing besonders darauf hin, dass Crowdsourcing-Projekte nicht nur auf die unternehmerische Perspektive beschränkt werden dürfen, sondern dass (Internet-)Communitys von sich aus Dienstleistungen und Produkte entwickeln. Je nach Projekt können die beteiligten Akteur_innen einen unterschiedlichen Wissensstand aufweisen, was eine Partizipation vereinfacht.[33]
Dennoch spielt Crowdsourcing vor allem in der Wirtschaft eine zentrale Rolle. Die Plattform Mechanical Turk des US-amerikanischen Unternehmens Amazon gilt als einer der größten und bekanntesten Anbieter, die Crowdsourcing nutzen, um digitale Arbeit anzubieten.[34] Mechanical Turk ermöglicht es Firmen, Clickworker_innen zu engagieren, die für sie sogenannte Micro-Tasks oder auch "Mikro-Dienstleistungen"[35][36] ausführen. Dabei handelt es sich um "routinemäßige Aufgaben"[37], auch Human Intelligence Tasks (kurz: HITs) genannt. Wie der Name andeutet, können diese noch nicht (gewinnbringend) maschinell durchgeführt werden und erfordern somit eine menschliche Bearbeitung.[38] Das kann beispielsweise das Kategorisieren von Fotografien, das Überprüfen von Übersetzungen, das Transkribieren oder das Bewerten von Suchergebnissen sein.[39][40]
Probleme, die durch diese Form der Arbeitsgestaltung entstehen können, werden vielfach kritisiert:
Im Vordergrund der Kritik stehen häufig der mangelnde Arbeitsschutz vieler Clickworker_innen. Sie befinden sich in keinem festen Anstellungsverhältnis[41], was beispielsweise dazu führt, dass kein Ausgleich im Fall von Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit erfolgt. Die fehlende Erfassung und Limitierung der Arbeitszeit kann zu sehr hoher Stundenanzahl führen, die keinerlei Regulierung unterliegt. Auch wird kein Versicherungsschutz über die Arbeitgeber_innen zur Verfügung gestellt[42], was zu einer zusätzlichen finanziellen Belastung führen kann, da die Vergütung der Arbeit in den meisten Fällen sehr gering ausfällt.[43] Clickworker_innen haben kein Anrecht auf Mindestlohn, weil sie im Regelfall als Soloselbständige gelten.[44] Aufgrund der Tatsache, dass nach erbrachter Leistung und nicht nach Stunden bezahlt wird, sind zum Teil hohe Arbeitszeiten erforderlich, um ausreichende Beträge zu erwirtschaften. Bei Micro-Tasking Plattformen (wie Mechanical Turk) tritt zusätzlich das Problem auf, dass das Ausführen einer Aufgabe erst entlohnt wird, wenn diese von den Kund_innen abgenommen wird, also ihrer Meinung nach zufriedenstellend ausgeführt wurde.[45] Es gibt allerdings keinerlei Möglichkeit, persönlichen Kontakt mit den Arbeitgeber_innen aufzunehmen, Feedback zu erhalten oder Beschwerden einzureichen.
Einige Forscher_innen gehen davon aus, dass Crowdsourcing-Projekte die Reproduktion von Ungleichheiten fördern. Dazu führt der Autor Daran Brabham aus: "Since crowdsourcing is necessarily an online phenomenon and not everyone has access to the Internet, no crowdsourcing application is accessible to all. Yet claims of democracy and 'of the people, by the people' surround crowdsourcing.[...] If crowds are relatively homogeneous and elite in their makeup, then crowdsourcing applications may reproduce the hegemonic values of those in power through creative production. This is especially problematic when the process is glossed over as 'democratic'".[46] Antonio Casilli und Kolleg_innen machen darauf aufmerksam, dass Micro-Tasking Plattformen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern weiter verstärken würden.[47] Casilli kritisiert zudem, dass Unternehmen Arbeiter_innen aus Drittländern rekrutieren, da deren Rechte in ihren Heimatländern weniger geschützt seien als im Globalen Norden. Zudem sei dort das durchschnittliche Einkommen geringer, was eine noch niedrigere Entlohnung möglich mache. Diese Form der Ausbeutung, die auf "wirtschaftlicher und politischer Asymmetrie"[48] beruht, könne als Neokolonialismus bezeichnet werden.[49]
Neben der digitalen Arbeit setzen andere Dienste auf Crowdworker_innen vor Ort. Der Essenslieferdienst Uber Eats fungiert als Vermittler zwischen Restaurants, Lieferant_innen und Kund_innen.[50] Die Ethnographin Alex Rosenblat erläutert in ihrem Werk "Uberland: How Algorithms Are Rewriting the Rules of Work", wie durch die scheinbar flexiblen Arbeitsverhältnisse der Uber-Crowdworker_innen Freiheit und Selbstständigkeit suggeriert werden, während in Wirklichkeit Überwachung und Abhängigkeiten entstünden.[51] Beim Ausliefern des Essens soll von den Lieferant_innen das Navigationssystem der Uber-App genutzt werden. Dadurch erzeugen ihre Smartphones wertvolle Geolokalisierungsdaten, die von Uber gesammelt werden. Die Daten, die durch dieses Crowdsensing erhoben werden, sollen unter anderem Automatisierungsprozesse vorbereiten und vorantreiben, um beispielsweise autonome Fahrzeuge zu entwickeln. Neben GPS-Daten können durch Crowdsensing auch andere Daten bezüglich der Infrastruktur von Städten erhoben werden, wie Informationen zu Stauvorkommen oder dem Zustand der Straßen.[52] Ähnlich wie in anderen Big Data-Diskursen stellen sich auch hier Fragen der Urheberschaft[53]: Wem gehören die erhobenen Daten und wer hat darauf Zugriff?
Doch nicht nur in der Ökonomie findet Crowdsourcing Anwendung, sondern ebenso im akademischen Bereich. Wie bereits in Bezug auf Citizen Science thematisiert, hat Crowdsourcing in der Forschung eine lange Historie und wurde schon vor der Zeit des Internets im kleineren Rahmen praktiziert. Daher wurde Crowdsourcing in seinen Anfängen im Bereich der Geisteswissenschaften vor allem dazu benutzt, ähnliche Projekte im größeren Ausmaß zu operationalisieren.[54] Beispiele solcher frühen akademischen Crowdsourcing-Projekte stellen das Transcribe Bentham-Projekt, in dem Manuskripte transkribiert werden, oder Galaxy Zoo dar, bei dem es um die Klassifizierung von entdeckten Galaxien geht, dar.
Bei heutigen Crowdsourcing-Projekten hat sich die Rolle der Crowd dahingehend verändert, dass nicht mehr lediglich eine generische Aufgabe einer großteils anonymen Masse angeboten wird, sondern spezifischere Aufgaben für kleinere Gemeinschaften definiert werden.[55] Wissenschaftler_innen im Bereich Digital Humanities, wie beispielsweise Mia Ridge, sehen in dieser Anpassung der Aufgaben an die sich ändernden Bedürfnisse der Crowd eine Steigerung der intrinsischen Motivation der Beteiligten, was schlussendlich zur Entwicklung neuer Forschungsfragen führen könne.[56] Das Old Weather-Projekt setze diese Art der Aufgabenanpassung erfolgreich um. Die Möglichkeit, in verschiedenen Aufgabenbereichen mitzuwirken, habe in diesem Fall bei der Crowd zu einem tieferen Interesse für das Thema geführt. Beim Old Weather-Projekt geht es um das Transkribieren alter Schiffstagebücher, um so historische Wetterdaten analysieren zu können. Durch das Arbeiten an den Tagebüchern haben die Teilnehmenden allerdings ein stärkeres Interesse an der Schifffahrtsgeschichte entwickelt. Dies habe dazu geführt, dass sie sich in Foren ausgetauscht haben und Theorien, beispielsweise über Korrelationen zwischen Todesfällen an Bord von Schiffen und aufeinanderfolgenden Wellen der spanischen Grippe 1918-1919, aufgestellt haben. Dadurch seien die Teilnehmenden selbst zu Expert_innen in spezifischen Bereichen der Schifffahrtsgeschichte geworden.[57]
Bei zukünftigen Projekten im Bereich Crowdsourcing wird es nach Ansichten in den Digital Humanities zu einer stärkeren Verflechtung der Teilnehmenden mit intelligenten Systemen kommen. Generierte Daten von bestehenden Crowdsourcing-Projekten, wie transkribierte Texte, Klassifikationen von Bildern oder Annotationen von Texten können zum Trainieren von Machine Learning-Systemen genutzt werden. Ein anderes Beispiel stellt das gezielte Koppeln von Aufgaben an das Wissen der einzelnen Teilnehmenden dar, wenn etwa Bilder von Blumen Akteur_innen mit botanischer Expertise für die Klassifizierung angezeigt werden.[58]
Wie wird der Begriff erfasst/festgestellt?
In Beschreibungen von Crowdsourcing werden häufig Imaginationen und Phantasmen von Schwarm- und kollektiver Intelligenz, von Kooperation und Kollaboration und den epistemologischen Potentialen des Verfahrens evoziert. Diese Begrifflichkeiten werden im Diskurs über digitale Crowds häufig vermischt, weshalb eine Abgrenzung des Begriffs je nach Anwendungsgebiet schwierig ist. Auch durch die teils fortlaufende und von Nutzer_innen ungesteuerte kontinuierliche Sammlung von Daten ergibt sich aus medienwissenschaftlicher Perspektive eine große Schwierigkeit, Crowdsourcing zu erfassen und abzugrenzen.
Im Gegensatz zu dieser problematischen unbewussten Teilhabe an Crowdsourcing-Prozessen nehmen User_innen an ausgeschriebenen Crowdsourcing-Projekten jedoch bewusst und aktiv – vielleicht auch aus inhaltlicher Überzeugung – teil. Der Journalist Jeff Howe unterteilt dabei vier Kategorien des Crowdsourcing basierend auf den Modi der Partizipation:[59]
- Crowd wisdom: Die Crowd löst komplexe Probleme
- Crowd creation: Die Crowd generiert neue Produkte/Ideen
- Crowd voting: Die Crowd bewertet eine Auswahl von Produkten/Ideen
- Crowd funding: Die Crowd generiert finanzielle Mittel zur Umsetzung eines Projekts
Ein weiterer Versuch der Operationalisierung aus der Kommunikationswissenschaft differenziert Crowdsourcing anhand der Aufgabenstellung, die das Projekt der Crowd stellt:[60]
- Knowledge-discovery und -management approach: Eine Organisation beauftragt die Crowd mit dem Beschaffen von Informationen, die in ein gebündeltes Format übertragen werden
- Broadcast-search approach: Eine Organisation beauftragt die Crowd mit der Lösung empirischer Probleme
- Peer-vetted creative-production approach: Eine Organisation beauftragt die Crowd mit dem Erstellen und Auswählen kreativer Ideen
- Distributed-human-intelligence tasking approach: Eine Organisation beauftragt die Crowd mit der Analyse einer großen Datenmenge
Welche Bildungsprojekte gibt es dazu?
Während es an Crowdsourcing-Projekten in verschiedensten Bereichen nicht mangelt, ist die Anzahl an klassischen Bildungsprojekten zu Crowdsourcing noch sehr gering. Folgende Beiträge ermöglichen dennoch einen tieferen Einblick in die Thematik:
- Die 2020 erschienene arte-Dokumentation "Unsichtbar - Die Klickarbeiter" beleuchtet in vier Episoden die Lebensrealität von Crowdworker_innen in unterschiedlichen Sparten. Die persönlichen Erfahrungsberichte werden durch Expert_innen-Interviews ergänzt und kontextualisiert: https://www.youtube.com/watch?v=HKYikWCZpDQ.
- Der Dokumentarfilm "The Cleaners - Im Schatten der Netzwelt" erzählt die Geschichte von fünf philippinischen Content-Moderator_innen, deren Aufgabe darin besteht, die auf Social Media-Plattformen hochgeladenen Inhalte zu sichten und die den Richtlinien nicht entsprechenden Beiträge zu löschen. Neben den teils gravierende psychischen Folgen dieser Tätigkeit thematisiert der Film außerdem, wie Facebook, Youtube und Co. die religiösen Werte der Arbeiter_innen missbrauchen, um sie als Motivation für die Arbeit zu nutzen[61]: https://www.bpb.de/mediathek/video/273199/the-cleaners/.
- Der französische Künstler Arnaud Adami thematisiert in seinen Werken die Arbeitsbedingungen von Essenslieferant_innen der bekannten Crowdworking-Plattformen. Während seine Leinwände 2022 im Espace Richaud in Versaille ausgestellt wurden (https://shorturl.at/brLW8), finden sich viele Auszüge seiner Arbeit auch auf seinem Instagram Account: https://www.instagram.com/adamiarnaud/.
Weiterführende Literatur
- Aitamurto, Tanja. 2019. "Crowdsourcing in Journalism", In: Oxford Research Encyclopedia, Communication, Oxford University Press USA, DOI: 10.1093/acrefore/9780190228613.013.795.
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- Dunn, Stuart und Hedges, Mark. 2018. Academic Crowdsourcing in the Humanities. Amsterdam: Elsevier, https://doi.org/10.1016/C2015-0-04363-5.
- Heilmann, Till A. 2015. „Datenarbeit im »Capture«-Kapitalismus. Zur Ausweitung der Verwertungszone im Zeitalter informatischer Überwachung“. In Zeitschrift für Medienwissenschaft. Heft 13: Überwachung und Kontrolle, Jg. 7 (2015), Nr. 2, S. 35–48. https://doi.org/10.25969/mediarep/1561.
- Howe, Jeff. 2006. “The Rise of Crowdsourcing”. In Wired, Aufgerufen am 13.06.2023, https://www.wired.com/2006/06/crowds/
- Otto, Isabell. 2012. "Kollektiv-Visionen". "Zu den Möglichkeiten der kollektiven Intelligenz", In: ZMK Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung., Kollektiv, Nr. 2, S. 185–200. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/18503.
- Rosenblat, Alex. 2018. Uberland: How Algorithms Are Rewriting the Rules of Work, Berkeley: University of California Press, https://doi.org/10.1525/9780520970632.
- Tapscott, Don, und Anthony D. Williams. 2008. Wikinomics. How Mass Collaboration Changes Everything, New York et al.: Portfolio.
- Troacă, Victor-Adrian und Bodislav, Dumitru-Alexandru. 2012. “Outsourcing. The Concept", In: Theoretical and Applied Economics, Auflage XIX, Nr. 6(571), S. 51-58.
- Tubaro, Paola; Casilli, Antonio A und Coville, Marion. 2020. "The trainer, the verifier, the imitator: Three ways in which human platform workers support artificial intelligence". In: Big Data & Society, 7 (1), https://doi.org/10.1177/2053951720919776.
- Tubaro, Paola et al. 2022. Hidden inequalities: the gendered labour of women on micro-tasking platforms. Internet Policy Review, 11(1), https://doi.org/10.14763/2022.1.1623.
Quellenverzeichnis
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- ↑ Howe, Jeff. 2006. “The Rise of Crowdsourcing”. Wired, (01.06). Aufgerufen am 26.05.2023. https://www.wired.com/2006/06/crowds/
- ↑ Dierks, Benjamin. 2017. „Berufsbild ‚Crowdworker‘: Die digitalen Tagelöhner“. Deutschlandfunk (28.09). Aufgerufen am 26.05.2023. https://www.deutschlandfunk.de/berufsbild-crowdworker-die-digitalen-tageloehner-100.html
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- ↑ Jenkins, Henry. 2006. Convergence Culture: Where Old and New Media Collide. New York: New York University Press. S.254
- ↑ Vehlken, Sebastian. 2016. "Multimodal Crowd Sensing". ReClaiming Participation: Technology - Mediation – Collectivity, herausgegeben von Mathias Denecke, Anne Ganzert, Isabell Otto und Robert Stock. Bielefeld: transcript Verlag, 51-66. Aufgerufen am 26.06.2023. https://doi.org/10.1515/9783839429228-005, S.59.
- ↑ Heilmann, Till A. 2015. „Datenarbeit im »Capture«-Kapitalismus. Zur Ausweitung der Verwertungszone im Zeitalter informatischer Überwachung“. In Zeitschrift für Medienwissenschaft. Heft 13: Überwachung und Kontrolle, Jg. 7 (2015), Nr. 2, S. 35–48. Aufgerufen am 26.06.2023. https://doi.org/10.25969/mediarep/1561, S.43.
- ↑ Die Stockfotos werden den User_innen und Unternehmen auf verschiedenen Portalen im Internet zur Verfügung gestellt. Auf die sogenannten Vorratsbilder wird häufig zurückgegriffen, um kostenfrei beziehungsweise kostengünstig die eigenen (Unternehmens-)Botschaften in Online- oder Offline-Kampagnen darzustellen. (o. A. 2019. “Stockfoto”, Aufgerufen am 25.06.2023, https://www.businessinsider.de/gruenderszene/lexikon/begriffe/stockfoto/.)
- ↑ Howe, Jeff. 2006. “The Rise of Crowdsourcing”. In Wired, Aufgerufen am 13.06.2023, https://www.wired.com/2006/06/crowds/.
- ↑ Das Konzept Outsourcing – die Auslagerung der Produktion von den Industrieländern in die Entwicklungsländer, um die Kosten zu reduzieren – wird in dem folgenden Artikel genauer erklärt: Troacă, Victor-Adrian und Bodislav, Dumitru-Alexandru. 2012. “Outsourcing. The Concept” , In: Theoretical and Applied Economics’’, Auflage XIX, Nr. 6(571), S. 51-58.
- ↑ Methodenpool. o. A. " CROWDSOURCING", Aufgerufen am 13.06.2023, https://methodenpool.salzburgresearch.at/methode/crowd-sourcing/.
- ↑ Pias, Claus; Baxmann, Inge und Beyes, Timon. 2014. Soziale Medien – Neue Massen. Medienwissenschaftliche Symposien der DFG. Zürich/Berlin: diaphanes. S. 11.
- ↑ Um ein Beispiel zu nennen, geht der Propagandabegriff bis auf das 19. Jahrhundert zurück, in dem er von der Arbeiterbewegung angeeignet wurde, um die Massen politisch zu bewegen. (Bussemer, Thymian, 2013. “Propaganda. Theoretisches Konzept und geschichtliche Bedeutung”, Aufgerufen am 07.07.2023, https://docupedia.de/zg/Propaganda.)
- ↑ Ein Kontrollmittel war die Stadtgestaltung während der Urbanisierung infolge der Industrialisierung. Die räumliche Anordnung diente dazu, den urbanen Raum zu überwachen. Dabei hat zum Beispiel die Zuteilung von Hausnummern für Identifizierung und Kontrolle der Massen gesorgt. Das Konzept der Gouvernementalität als sogenanntes städtisches Regieren auf Distanz wird in Michel Foucaults Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I genauer erläutert: Foucault, Michael. 2006. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt am Main, S. 31-41.
- ↑ Pias, Claus; Baxmann, Inge und Beyes, Timon. 2014. Soziale Medien – Neue Massen. Medienwissenschaftliche Symposien der DFG. Zürich/Berlin: diaphanes. S. 19-20.
- ↑ Pias, Claus; Baxmann, Inge und Beyes, Timon. 2014. Soziale Medien – Neue Massen. Medienwissenschaftliche Symposien der DFG. Zürich/Berlin: diaphanes. S. 18-19.
- ↑ Pias, Claus; Baxmann, Inge und Beyes, Timon. 2014. Soziale Medien – Neue Massen. Medienwissenschaftliche Symposien der DFG. Zürich/Berlin: diaphanes. S. 21.
- ↑ Pias, Claus; Baxmann, Inge und Beyes, Timon. 2014. Soziale Medien – Neue Massen. Medienwissenschaftliche Symposien der DFG. Zürich/Berlin: diaphanes. S. 19.
- ↑ o. A. 2023. "Citizen Science: What is Citizen Science". In: Illinois Library, Aufgerufen am 13.06.2023, https://guides.library.illinois.edu/c.php?g=348340&p=2347193.
- ↑ Guida, Michael. 2019. “1928. Popular bird-watching becomes scientific: The first national bird census in Britain”, In: Public Understanding of Science, 28(5), 622–627. https://doi.org/10.1177/0963662519839555.
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- ↑ Wiener, Anna. 2018. “The Complicated Legacy of Stewart Brand’s “Whole Earth Catalog””, Aufgerufen am 25.06.2023, https://www.newyorker.com/news/letter-from-silicon-valley/the-complicated-legacy-of-stewart-brands-whole-earth-catalog.
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Die erste Version dieses Beitrags beruht auf studentischen Arbeiten von Emma Daoova, Helen Dreyhaupt, Barbara Frick und Lennart Kappes im Rahmen des Projekts "Digitale Souveränität" am Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht und am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln.
Zitiervorschlag: Glossar Digitale Souveränität. 2024. „Crowdsourcing (Medienwissenschaft).“ https://www.bigdataliteracy.net/glossar/. Zugegriffen am tt.mm.jjjj.